Bipolar hat nichts mit Klimawandel zu tun.

Der Begriff beschreibt eine schwere psychische Erkrankung. Sie bringt das innere Gleichgewicht aus dem Lot und setzt die Betroffenen auf eine Achterbahn der Gefühle. Psychiater erforschen die Ursachen der bipolaren Störung – und finden individuelle Wege, um persönliche Katastrophen abzuwenden.

Interview

Zwischen grenzenloser Euphorie und totaler Niedergeschlagenheit: Menschen mit bipolarer Störung leben in einem gefährlichen Wechselbad der Gefühle. Die Krankheit kann die Betroffenen völlig aus der Bahn werfen. Doch wenn die Krankheit schnell und richtig behandelt wird, lässt sich auch wieder ein Leben ohne Achterbahnfahrten führen. Lieselotte Mahler ist Oberärztin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im  St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin und erklärt, was den Erkrankten helfen kann.

Gestern noch gut drauf und in Partystimmung, heute niedergeschlagen und keine Lust auf nichts: Könnte dies schon ein Anzeichen einer bipolaren Störung sein?
Im Prinzip schon – ist es aber in den allermeisten Fällen nicht. Solche Stimmungsschwankungen kennen viele Menschen aus den etwas turbulenten Lebensphasen, zum Beispiel der Pubertät oder wenn man verliebt ist. Das ist ganz normal und kein Anlass zur Sorge.

Wann sind denn Stimmungsschwankungen nicht mehr normal? Gibt es so etwas wie Warnsignale?
Wenn sich die Stimmungen zunehmend von den auslösenden Momenten „entkoppeln“ und es von außen betrachtet keinen Grund für ein Hoch oder Tief gibt, dann könnte dies ein Anzeichen einer bipolaren Störung sein. Schlagen die Stimmungsschwankungen dann so extrem aus, dass man total neben der Spur ist und vielleicht sich selbst oder anderen Schaden zufügt, sollte man unbedingt Hilfe suchen. Ein Patient von mir hielt sich zum Beispiel während einer manischen Phase für unverwundbar und preschte mit 200 Kilometern pro Stunde im Auto über Landstraßen. Warnsignale sind oft auch Rückmeldungen von vertrauten Menschen, die einen zunehmend als fremd und verändert erleben. Aber auch Schlafstörungen, sozialer Rückzug, vermehrte Konflikte und Reizbarkeit können darauf hinweisen, dass etwas mit dem psychischen Gleichgeweicht nicht mehr stimmt.

„Menschen mit bipolarer Störung versuchen zunächst meistens, sich selbst in den Griff zu bekommen.“

Sollte man gleich zum Arzt? Oder reicht es, wenn man einfach einen Gang runterschaltet?
Wenn es reicht, kürzer zu treten und es gelingt, sich damit zu regulieren, dann sind die eigenen Bewältigungsstrategien noch wirksam. Menschen mit bipolarer Störung versuchen zunächst meistens, sich selbst „in den Griff zu bekommen“. Doch in einer akuten Phase der bipolaren Störung reichen eigene Strategien häufig nicht aus. Dann ist es notwendig, sich möglichst schnell professionelle Unterstützung zu suchen.

Was passiert, wenn ich versuche, die Krankheit ohne Arzt zu kontrollieren?
Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass eine erkrankte Person zuerst ohne ärztliche Hilfe zurechtkommen möchte. Eine bipolare Störung betrifft ja das eigene Erleben und die eigene Persönlichkeit. Den Betroffenen scheint es oft wenig sinn- und hoffnungsvoll einen Psychiater aufzusuchen. Doch das führt dazu, dass sie leider häufig erst dann zu uns kommen, wenn der Leidensdruck schon enorm hoch ist und durch die Krankheit Verluste oder Konflikte entstanden sind. Wichtig ist es, die Betroffenen dabei zu stärken, Experten der eigenen Erkrankung zu werden, so dass sie sie zunehmend kontrollieren können.

„Eine bipolare Störung betrifft das eigene Erleben und die eigene Persönlichkeit.“

Wie finden Sie heraus, ob ein Patient an einer bipolaren Störung leidet?
Das kann nur durch ein gemeinsames Verstehen und Erkunden mit den Betroffenen und ihren Bezugspersonen gelingen. Ich führe lange Gespräche mit ihm, baue Vertrauen auf, lerne seine Lebenssituation kennen und versuche herauszufinden, ob seine Stimmungsschwankungen im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung stehen. Erste Veränderungen finden sich häufig schon Jahre bevor er in die Behandlung kommt.

Wie können Sie denn sicher sein? Stethoskop oder Blutprobe helfen hier ja nicht weiter.
Das stimmt so nicht ganz. Als Psychiaterin kläre ich natürlich auch ab, ob es für bestimmte psychische Symptome vielleicht körperliche Ursachen gibt, zum Beispiel eine Funktionsstörung der Schilddrüse. Und natürlich stellen wir die Diagnose nicht einfach so. Wir orientieren uns an Klassifikationssystemen, die beschreiben, welche und wie viele Symptome auf eine bestimmte psychische Erkrankung hinweisen. Doch meine wichtigsten „Hilfsmittel“ als Psychiaterin  sind: Verstand, Erfahrungen und Empathie. So unterschiedlich die einzelnen Menschen mit einer bipolaren Störung auch sind, sie weisen doch sehr ähnliche Verläufe und Symptome auf, so dass sich die Diagnose meistens – aber nicht immer – sehr sicher stellen lässt.

Wie geht es dann weiter? Welche Therapien können helfen?
Als Erstes muss es gelingen, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen. Sie bildet das Fundament aller weiteren Ansätze. Therapien sollten sich nach den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Patienten und seiner Bezugspersonen richten. Als besonders wirksam erweist sich die Kombination aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung.

Wie lange dauert eine Behandlung?
Den Patienten aus seiner akuten Krankheitsphase herauszuholen, dauert in der Regel nicht lange. Danach stehen dann die weitere Stabilisierung und die Vorbeugung eines Rückfalls im Vordergrund, indem wir den Patienten psychotherapeutisch und sozial begleiten und kontinuierliche Beziehungsarbeit leisten. Die bipolare Störung ist meist ein lebenslanger Begleiter, aber es kann viele Jahre ohne akute Erkrankungsphasen geben.

„Die bipolare Störung ist meist ein lebenslebenslanger Begleiter.“

Klingt, als würden Sie Ihre Patienten über einen sehr langen Zeitraum behandeln? Ist das bei allen psychischen Erkrankungen so?
Häufig begleiten wir Menschen über einen langen Zeitraum, in vielen Fällen können wir aber durch gezielte kurze Interventionen und die Stärkung eigener Strategien und Ressourcen eine langwierige Behandlung vermeiden. Das ist relativ unabhängig von der Diagnose.

Würden Sie manchmal nicht lieber einen Blinddarm operieren oder einen Beinbruch behandeln?
Wenn ich ab und zu die Möglichkeit dazu hätte und dennoch Psychiaterin bleiben dürfte, warum nicht? Als „täglich Brot“ fände ich es aber doch eher ziemlich dröge. Mich fasziniert es eben gerade, dass ich als Psychiaterin auf den ganzen Menschen eingehen kann und mit jedem Patienten eine besondere Reise erlebe.

„Mich fasziniert es, dass ich als Psychiaterin auf den ganzen Menschen eingehen kann.“

Sie würden heute also wieder Psychiaterin werden?
In jedem Fall! Dass ich dies jemals so sehen würde, hätte ich als Medizinstudentin nicht gedacht. Aber nach elf Jahren Berufserfahrung kann ich nur sagen: Es gibt für mich keinen spannenderen und vielseitigeren Beruf.

Lexikon

Stimmungsschwankungen kennen wir alle: An manchen Tagen läuft einfach alles perfekt, wir sind happy und fühlen uns, als könnten wir Bäume ausreißen. An anderen Tagen ist dann Flaute angesagt und die Energie reicht höchstens für einen Bonsai. Nichts kann uns zum Lachen bringen und wir würden uns am liebsten im Bett verkriechen. Das ganz normale Leben eben. Menschen mit einer bipolaren Störung empfinden jedoch ein viel extremeres Auf und Ab der Emotionen. Zwischen grenzenloser Euphorie und totaler Niedergeschlagenheit ist für sie ein geregeltes Leben kaum mehr möglich.

Ein Schüler feiert mitten am Tag eine laute Party nur für sich allein. Eine Studentin shoppt wie im Rausch in der Einkaufsmall und überzieht Konto und Kreditkarte um mehrere tausend Euro. Ein junger Familienvater regt sich ohne Grund auf und streitet sich dermaßen mit seinem Chef, dass ihm die Kündigung droht. All dies ist typisch für die manischen Phasen einer bipolaren Störung. Die Betroffenen sind dann wie getrieben, fühlen sich als die Größten, kennen keine Grenzen. Sie kennen aber auch das genaue Gegenteil: depressive Phasen, in denen sie sich zurückziehen, alle Interessen verlieren, sich wertlos fühlen und im schlimmsten Fall sogar an Suizid denken.

Die Krankheit kann jeden treffen
Die bipolare Störung kommt häufiger vor, als man denkt. Rund eine Million Erwachsene sind in Deutschland betroffen. Frauen und Männer erkranken gleich häufig. Es kann jeden treffen. Die meisten Patienten erleben ihre erste Krankheitsepisode im frühen Erwachsenenalter. Eine eindeutige Ursache konnte bisher nicht nachgewiesen werden. In der Wissenschaft geht man davon aus, dass viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Dazu gehören biologische Ursachen wie Veränderungen in den Genen, im Botenstoffsystem des Gehirns oder im Hormonhaushalt. Gleichzeitig können auch äußere Faktoren – zum Beispiel andauernder Stress oder eine traumatische Erfahrung –  einen Einfluss auf die Entstehung der Krankheit haben.

„Die meisten Patienten erleben ihre erste Krankheitsepisode im frühen Erwachsenenalter“.

Diagnose: Symptome richtig deuten
Die bipolare Störung verläuft bei jedem anders. Die Diagnose lässt sich daher nur mit einer gründlichen Untersuchung stellen – und meist auch erst dann, wenn schon beide Stimmungsextreme beobachtet wurden. Der Psychiater versucht in ausführlichen Gesprächen, für bipolare Störungen typische Symptome zu finden. Für eine sichere Diagnose muss der Betroffene auch körperlich durchleuchtet werden, um andere Krankheiten mit ähnlichen Merkmalen ausschließen zu können. Typisch ist, dass Menschen mit einer bipolaren Störung zwischen manischen und depressiven Phasen schwanken, deshalb wurden sie früher auch als manisch-depressiv bezeichnet. Einige Patienten erleben auch Mischzustände, in denen sie sich getrieben und zugleich mutlos und deprimiert fühlen. Zwischen den einzelnen Krankheitsepisoden können mehrere Monate oder Jahre vergehen, in denen der Patient beschwerdefrei lebt. Je nach Art und Schwere der bipolaren Störung werden verschiedene Unterformen unterschieden.

Unbehandelt hat die Krankheit schwerwiegende Folgen
Eine bipolare Störung bedeutet aber nicht nur, dass die Stimmungen der Betroffenen extrem variieren. Denn oftmals kommt es durch die Krankheit zu massiven Problemen im gesamten Lebensumfeld: Krise in der Partnerschaft, Trennung, Verschuldung oder Probleme im Job bis hin zum Arbeitsplatzverlust sind typische Beispiele für solche Kollateralschäden. Hinzu kommen sehr oft Schamgefühle der Betroffenen, die dadurch immer weiter in die soziale Isolation geraten. Das Risiko für Suizid ist bei Menschen mit bipolarer Störung 20- bis 30-mal so hoch wie bei gesunden Menschen. Ungefähr 25 bis 50 von 100 Betroffenen unternehmen im Laufe des Lebens einen Suizidversuch. Bei ungefähr der Hälfte aller Erkrankten finden sich Hinweise auf Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Sie versuchen dadurch ihrem Leidensdruck zu entfliehen und geraten dabei in die Abhängigkeit.

Das Suizidrisiko ist bei Menschen mit bipolarer Störung 20- bis 30-mal so hoch wie bei gesunden Menschen.

Kombination von Medikamenten und Psychotherapie
Je früher sich ein Betroffener Hilfe beim Experten sucht, desto besser. Durch moderne Behandlungsmethoden können die Symptome der Krankheit wirkungsvoll bekämpft und der Verlauf deutlich gebessert werden. Bipolare Störungen sind allerdings chronisch, was eine lebenslange Behandlung erforderlich macht. Diese besteht meist aus einer Kombination verschiedener Methoden: Neben der medikamentösen Therapie spielen psychotherapeutische Verfahren eine wichtige Rolle. Sehr oft werden beide Therapien kombiniert. Ziel ist es, aktuelle Beschwerden einer bipolaren Krankheitsphase zu lindern und zukünftigen vorzubeugen. Richtig behandelt können Betroffene ein fast normales Leben führen.

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Interview

Schon mit 17 Jahren brachte er sein erstes Album heraus. In den 1970er und 1980er Jahren gab er mit dem Gitarrenduo „Kolbe & Illenberger“ über 1000 Konzerte in mehr als 40 Ländern. Dann geriet das  Leben von Martin Kolbe durch die bipolare Störung völlig durcheinander. Erst vor vier Jahren kehrte er auf die Bühne zurück. Anders als früher, dreht sich sein Programm jetzt vor allem um die Erkrankung und seine Erfahrungen in der Psychiatrie.

Herr Kolbe, schon seit über 30 Jahren ist die bipolare Störung Teil Ihres Lebens. Was müssen Sie tun, damit es Ihnen gut geht? Sind Sie in ständiger Behandlung?
Um gesund zu bleiben, ist ausreichend Schlaf ein ganz wesentlicher Faktor – das habe ich gelernt. Deshalb achte ich sehr darauf. Wenn ich nach zwei, drei Stunden Schlaf munter und voller Tatendrang aus dem Bett hüpfe, gehen bei mir heute – im Gegensatz zu früher – alle Alarmglocken an. Ist es in der nächsten Nacht auch so, nehme ich Kontakt zu meinem Psychiater auf und wir besprechen, wie wir jetzt vorgehen. Um meinen Schlaf zu regulieren, nehme ich abends eine quasi homöopathische Dosis eines Medikamentes, das auch zur Behandlung von Psychosen eingesetzt wird. In dieser geringen Dosierung wirkt es ausschließlich schlaffördernd und zeigt zum Glück keine unerwünschten Nebenwirkungen. Wenn ich das Gefühl bekomme, den Bodenkontakt zu verlieren, erhöhe ich die Dosis in Absprache mit meinem Arzt geringfügig. Nach ein paar Tagen bin ich wieder auf der sicheren Seite. Meinen Psychiater sehe ich seit über 15 Jahren etwa alle sechs Wochen. Ich weiß nicht, ob man da von einer ständigen Behandlung sprechen kann. Ich sehe ihn eher als eine Art Fluglotsen, der mir von neutraler Warte aus meine Flughöhe durchgibt. Dieses Modell hat sich für mich seit vielen Jahren bestens bewährt.

„Ich sehe meinen Psychiater als eine Art Fluglotsen, der mir von neutraler Warte aus meine Flughöhe durchgibt.“

War es ein schwieriger Weg, an diesen Punkt zu gelangen? Leben Sie in ständiger Angst vor einem Rückfall?
Es war ein langer und schwieriger Lernprozess, der mit beträchtlichen sozialen und finanziellen Verlusten verbunden war. Ich durchlebte viele Höhenflüge mit darauffolgenden Abstürzen und Phasen des Wieder-Hochrappelns, bis ich diese Lektion gelernt und verinnerlicht hatte. Und klar, es ist für mich auch heute nicht ganz einfach, die richtige Balance zwischen einer ängstlichen Daueralarmbereitschaft und dem lässigen Abtun von Frühwarnsymptomen zu finden, aber es geht und ich lebe die meiste Zeit über ziemlich „normal“ – was immer dieses Wort auch bedeuten mag.

Erinnern Sie sich noch, wie sich die Krankheit bei Ihnen zuerst bemerkbar gemacht hat?
Das war 1979. Zunächst fiel ich nach dem ersten, sehr erfolgreichen Jahr als professioneller Musiker in ein tiefes emotionales Loch – heute würde man wohl Burnout dazu sagen. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, es war einfach nur schrecklich und trostlos. Als diese depressive Krise nach ein paar Monaten vorbeiging, kippte mein Zustand ins Gegenteil und ich erlebte den ersten manischen Höhenflug. Zuerst fühlte es sich fantastisch an, schlug dann aber nach kurzer Zeit in eine paranoide Psychose um. Diese Phase war dann überhaupt nicht mehr lustig. Ich konnte mit dieser unglaublichen Energie, den Ideen, dem Gedankenrasen und den vielen hochfliegenden Projekten, die ich in dieser Zeit entwickelte, einfach nicht umgehen. Es war schlicht zu viel – und ich baute auch körperlich rasant ab.

Und dann? Haben Sie sich sofort Hilfe gesucht?
An einem bestimmten Punkt sagten meine Freunde, das könne so nicht weitergehen und brachten mich in eine psychiatrische Klinik, wo ich mit Medikamenten wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht wurde. Etwas unsanft, aber wirksam. Ich selbst wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mir dort Hilfe zu suchen.

Wie haben Sie die Diagnose damals empfunden? Schock oder Erleichterung oder beides?
Die Diagnose kam erst acht Jahre später, nach der dritten Manie und dem zweiten Klinikaufenthalt. Bei mir löste die Bezeichnung „manisch-depressiv“ zunächst nur Unverständnis aus. Es gab – anders als heute – kaum Informationen dazu. Das Wenige, was ich kriegen konnte, habe ich gelesen und mich in manchem wiedergefunden, in vielem aber gar nicht. Es dauerte noch lange Jahre, bis ich die Diagnose endlich akzeptieren konnte. Bis dahin betrachtete ich die manischen Episoden nicht als krankhaft, sondern als eine Art Geburtswehen auf dem Weg zu meinem eigentlichen Ich. Vielleicht ist da ja sogar was dran – ich weiß es nicht.

Über die Folgen körperlicher Erkrankungen sind wir heute sehr gut informiert. Doch bei psychischen Erkrankungen ist dies nicht der Fall. Wie hat sich die bipolare Störung auf Ihr Leben ausgewirkt?
Drastisch. Ich musste meine berufliche Laufbahn für ein Vierteljahrhundert unterbrechen, meine Ehe ging wegen der Erkrankung in die Brüche, einige Freundschaften und viel Materielles habe ich durch die manischen Zeiten verloren. Doch trotz dieser „Kollateralschäden“ habe ich ein reiches und erfülltes Leben – und empfinde fast so etwas wie Dankbarkeit. Denn ich habe in den manischen, depressiven und auch in den psychotischen Zeiten die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt und Dinge erlebt und gesehen, die andere wahrscheinlich nur durch den massiven Einsatz bewusstseinserweiternder Drogen erfahren können. Abgesehen davon sind durch diese Erfahrungen auch einige interessante und ungewöhnliche Songtexte entstanden (lacht).

„Durch meine Erkrankung habe ich die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt.“

Wie reagieren die Menschen heute, wenn Sie ihnen von Ihrer Erkrankung erzählen?
Früher hielt ich mich da sehr bedeckt. Niemand sollte davon erfahren und ich schämte mich, so einen „Makel“ zu haben. Wer möchte schon psychisch krank sein? Mittlerweile gehe ich absolut offen damit um: Ich dränge das Thema niemandem auf, aber wenn ich gefragt werde, wieso ich eine Rente beziehe, verstecke ich mich nicht mehr und erzähle, was Sache ist. Und seltsam: Bis jetzt habe ich noch keine einzige schlechte Erfahrung damit gemacht, im Gegenteil. Jeder Gesprächspartner hat entweder eigene Erfahrungen in dieser Richtung oder kennt zumindest jemanden, der psychische Probleme hatte oder hat. Daraus ergeben sich oft gute und sehr tiefe Gespräche, weitab von jedem Smalltalk.

„Mittlerweile gehe ich absolut offen mit meiner Erkrankung um – und habe bisher noch keine einzige schlechte Erfahrung gemacht.“

Sind Stigma, Vorurteile und Diskriminierung noch ein Thema?
Oh ja, leider! Durch den tragischen Tod des Fußballers Robert Enke vor ein paar Jahren wurde es immerhin salonfähig, über Depressionen zu sprechen – das Thema ging ja damals durch alle Talkshows. Doch über die „härteren Sachen“ wie Schizophrenie, Borderline oder eben bipolare Störungen wirft man immer noch den Mantel des Schweigens. Liegt es daran, dass im Grunde jeder weiß, dass es jeden treffen könnte? Oder sitzt tief drin immer noch das Bild des gefährlichen Irren, das in vielen Filmen zementiert wurde? Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir über eins ganz sicher: Nur wenn wir darüber reden, ändert sich etwas an der Stigmatisierung. Wenn es eines Tages möglich ist, über psychische Erkrankungen so scham- und angstfrei zu sprechen wie über Bluthochdruck oder Migräne, könnten viele Menschen bedeutend leichter und freier leben.

Sie wurden mehrmals in einer psychiatrischen Klinik behandelt, nicht immer freiwillig. Was für ein Bild haben Sie heute von der Psychiatrie und Psychotherapie?
Ich war dreimal in psychiatrischen Kliniken, jeweils in der geschlossenen Abteilung und kein einziges Mal aus eigenem Willen. Die ersten beiden Erfahrungen waren nicht gut, zum Teil sogar entsetzlich. Danach war die Psychiatrie zunächst einmal ein Angstgegner für mich. Erst beim dritten Aufenthalt hat sich das Bild gewandelt. Da habe ich echte Hilfe und Menschlichkeit erfahren und seitdem sehe ich die psychiatrischen Kliniken in einem anderen Licht, deren Angebote ich in Krisen auch von mir aus in Anspruch nehmen würde.

Was macht einen guten Psychiater aus?
Für mich in allererster Linie: Menschlichkeit. Echtes Interesse an den Patienten als Personen, sie nicht als „Fälle“ zu betrachten, sondern als gleichwertige Mitmenschen, die sich in einer Notlage befinden und denen der Psychiater seine fachliche Unterstützung anbieten kann. Und  ein Verhältnis auf Augenhöhe, welches beinhaltet, den Patienten eben auch mal eigene Wege gehen zu lassen – selbst wenn der Therapieplan etwas anderes vorsieht.

Sie betreuen eine Selbsthilfegruppe. Was ist die häufigste Frage, die Ihnen von anderen Betroffenen gestellt wird? Wie lautet Ihre Antwort?
Die Zürcher Bipolar-Gruppe habe ich 2007 gegründet – weniger, um selbst Hilfe und Unterstützung zu bekommen, als um anderen den Austausch und die gegenseitige Hilfe zu ermöglichen. Eine häufigste Frage gibt es so nicht, aber was immer wieder aufkommt, ist: Kann man mit einer bipolaren Störung umgehen und ein lebenswertes Leben damit führen? Die Antwort ist: Ja, man kann! Es braucht viel Willen und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen und konsequent dranzubleiben, aber es ist möglich und machbar und – es lohnt sich!

„Kann man mit einer bipolaren Störung umgehen und ein lebenswertes Leben damit führen? Die Antwort ist: Ja, man kann!“

Links:
www.dgbs.de
www.martin-kolbe.com
www.bipolar-roadshow.de