Interview
Es ist, als würden ihnen überall Hindernisse in den Weg gelegt: ADHS führt bei Erwachsenen dazu, dass sie immer wieder scheitern, immer wieder Dinge anfangen und diese immer wieder abrechen. In ihrem Leben gibt es keine Struktur, keinen Plan, kein Durchatmen – und daran können sie verzweifeln. Doch mit den richtigen Bausteinen lässt sich ADHS bändigen. Wie das geht, erzählt die Psychiaterin Alexandra Philipsen von der Uniklinik der Karl-Jaspers-Klinik in Oldenburg im Interview. Sie gehört zu Deutschlands Top-Experten, wenn es um ADHS geht.
Frau Philipsen, kaum spricht man über ADHS, fällt auch gleich der Begriff „Zappelphilipp“. Wird er der Krankheit gerecht?
Nein, das klingt zwar griffig, aber greift viel zu kurz. Denn damit wird nur die motorische Unruhe beschrieben, die sich vor allem bei Jungs beobachten lässt und die im Laufe des Lebens in der Regel abnimmt. Im Erwachsenenalter stehen Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme mit der Alltagsorganisation im Vordergrund.
Was ist ADHS eigentlich?
Genau genommen handelt es sich um eine Entwicklungsstörung. Bei ADHS sind bestimmte Regelkreise im Gehirn gestört, die beim Ordnen der Gedanken und beim Steuern von Motivation, Aufmerksamkeit und Aktivität eine entscheidende Rolle spielen. Dabei gerät auch die Regulierung der Botenstoffe durcheinander, so dass die Informationsübertragung zwischen den Hirnregionen nicht mehr richtig funktioniert. Weil auch die Signalübertragung nicht genügend gehemmt wird, entsteht auch ein Informationsüberschuss. Die Folge: Menschen mit ADHS können sich nicht mehr konzentrieren oder haben Probleme strukturiert zu denken.
ADHS betrifft also nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene?
Ja, wir gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Kinder mit ADHS die Symptome ins Erwachsenenalter mitnimmt.
Wann kommen die Patienten zu Ihnen in Behandlung? Was haben Sie bis dahin schon erlebt?
Die Patienten sind ca. Mitte dreißig und haben schon viele Weichen in ihrer Lebensplanung gestellt – z. B. was die Berufswahl oder die Familiengründung angeht. Hinter den meisten liegt ein langer Leidensweg, weil sie in ihrem Alltag immer wieder gescheitert sind. Viele fühlen sich als Versager und wissen nicht, dass ADHS der Grund für ihre Probleme ist. Die Krankheit ist ein ständiger Störenfried in ihrem Leben, den sie ohne professionelle Hilfe nicht mehr loswerden.
Was sind die typischen Symptome? Wann treten diese auf?
ADHS kann sich bei Erwachsenen ganz unterschiedlich zeigen. Typisch sind massive Aufmerksamkeitsprobleme, vor allem bei Routinetätigkeiten. Dazu kommen Schwierigkeiten beim Kontrollieren der eigenen Impulse und eine große innere Unruhe. Außerdem leiden die Betroffenen oft unter starken Stimmungsschwankungen. All das wirkt sich auf ihren Alltag aus. Menschen mit ADHS fällt es schwer, ihrem Leben Struktur zu geben. Sie wirken planlos, chaotisch, unkonzentriert.
Wie können Sie ADHS als Psychiaterin diagnostizieren?
Wichtig ist, dass ich mich auf meine Patienten einlasse und mit ihnen in eine therapeutische Beziehung trete.
„Ich kann nicht einfach einen Blutwert bestimmen oder ein Röntgenbild machen.“
Grundlage für eine sichere Diagnose ist eine ausführliche und systematische Befragung der Patienten. Hier geht es auch um die Entwicklungs- und Familiengeschichte, denn ADHS ist innerhalb einer Familie oftmals kein Einzelfall. In der Spezialambulanz arbeiten wir bei der Diagnosestellung mit standardisierten Fragebögen, um die Symptome strukturiert zu erfassen und den Verlauf besser beurteilen zu können. Dazu kommen testpsychologische Untersuchungen und Verhaltensbeobachtungen. Außerdem müssen wir andere psychische und körperliche Erkrankungen ausschließen, die zu einer ähnlichen Symptomatik führen können wie etwa Schilddrüsenerkrankungen.
Was sind die Ursachen?
Wir wissen heute, dass die Entstehung von ADHS von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. ADHS tritt familiär gehäuft auf: Die Gene spielen also eine ganz erhebliche Rolle, nach neuen Studien ist ADHS bis zu 70 Prozent erblich bedingt. Trotzdem sind auch andere Einflussfaktoren wichtig: z. B. Umweltfaktoren oder Komplikationen und Belastungen während der Schwangerschaft. Frühgeborene haben ein erhöhtes Risiko, an ADHS zu erkranken.
Wie können Sie den Betroffenen helfen?
Ich stelle immer wieder fest, dass schon die Diagnose einer ADHS bei vielen Betroffenen zu einer großen Entlastung führt. Sie wissen dann endlich, dass die Probleme in ihrem Leben eine Ursache haben – und dass sie nicht nur einfach chaotisch, faul und egozentrisch sind. Deshalb kläre ich meine Patienten sehr ausführlich über das Krankheitsbild und die Therapiemöglichkeiten auf – wir Fachleute nennen das Psychoedukation. Die Therapie muss sich ganz individuell auf jeden einzelnen Patienten ausrichten. Wie ausgeprägt ist die ADHS? Zu welchen Schwierigkeiten führt sie im Alltag? Welche Ressourcen hat der Patient? Was sind seine Wünsche? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können wir mit der Therapie beginnen, die sich immer aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt.
„In den meisten Fällen lässt sich die ADHS in den Griff bekommen.“
Als wirksam erweisen sich bestimmte psychotherapeutische Verfahren, z. B. die Verhaltenstherapie. Gleichzeitig stehen uns als Ergänzung auch Medikamente zur Verfügung, welche die Botenstoffe im Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringen.
Sie meinen Ritalin? Das Medikament ist ja in der Bevölkerung umstritten.
Ritalin gibt es seit den fünfziger Jahren. Die Frau des Erfinders Dr. Panizzon hieß Marguerite kurz „Rita“. Ritalin wurde damals in der Tat recht unkritisch eingenommen. Dies hat sich in der Bevölkerung festgesetzt. Der Wirkstoff Methylphenidat gehört zu den Stimulantien, unterliegt inzwischen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung und ist zur Behandlung der ADHS zugelassen, das heißt, die Abgabe ist sehr kontrolliert.
Immer unter Strom stehen und aktiv sein muss doch wahnsinnig anstrengend sein. Birgt ADHS noch weitere Risiken?
Die Betroffenen haben ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen. Auch körperliche Erkrankungen wie Adipositas und deren Folgen sind häufig. Aus Studien geht hervor, dass ADHSler ohne Behandlung – statistisch gesehen – früher sterben. Die häufigste Todesursache sind Verkehrsunfälle, weil sie eine erhöhte Risikobereitschaft haben und gleichzeitig die Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt ist.
Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit ADHS?
Klinisch und neurobiologisch gesehen ist ADHS eine faszinierende Verhaltensauffälligkeit. ADHS im Erwachsenenalter war in Deutschland bis vor wenigen Jahren noch kein Thema und praktisch unerforscht, so dass sich hier viele Forschungsansätze zu Ursache und Behandlung ergaben.
„Der Hauptgrund sind aber die Patienten: ihre Lebhaftigkeit und Kreativität sind auch inspirierend.“
Welche Herausforderungen ergeben sich im Behandlungsalltag?
Die größte Herausforderung ist es, die Patienten zu ermutigen, ihre Behandlung auch fortzuführen. Vorzeitige Therapieabbrüche sind für ADHS leider typisch. Und leider sind die Wartezeiten in den Ambulanzen zur Diagnostik noch viel zu lang.
Wann haben Sie sich entschieden, Psychiaterin zu werden und warum?
Schon früh im Studium habe ich mich für die Neurowissenschaften interessiert. Mein PJ-Wahlfach habe ich in der Neurologie absolviert, meine Doktorarbeit habe ich in der Neuropädiatrie verfasst. Letztlich waren es aber die Patienten, die mein Interesse an der Psychiatrie weckten. Als Psychiaterin kann ich mich dem ganzen Menschen widmen. Jede Lebensgeschichte ist einzigartig. Gleichzeitig stellt das Gehirn uns noch viele unbeantwortete Fragen.
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