Schon mit 17 Jahren brachte er sein erstes Album heraus. In den 1970er und 1980er Jahren gab er mit dem Gitarrenduo „Kolbe & Illenberger“ über 1000 Konzerte in mehr als 40 Ländern. Dann geriet das Leben von Martin Kolbe durch die bipolare Störung völlig durcheinander. Erst vor vier Jahren kehrte er auf die Bühne zurück. Anders als früher, dreht sich sein Programm jetzt vor allem um die Erkrankung und seine Erfahrungen in der Psychiatrie.
Herr Kolbe, schon seit über 30 Jahren ist die bipolare Störung Teil Ihres Lebens. Was müssen Sie tun, damit es Ihnen gut geht? Sind Sie in ständiger Behandlung?
Um gesund zu bleiben, ist ausreichend Schlaf ein ganz wesentlicher Faktor – das habe ich gelernt. Deshalb achte ich sehr darauf. Wenn ich nach zwei, drei Stunden Schlaf munter und voller Tatendrang aus dem Bett hüpfe, gehen bei mir heute – im Gegensatz zu früher – alle Alarmglocken an. Ist es in der nächsten Nacht auch so, nehme ich Kontakt zu meinem Psychiater auf und wir besprechen, wie wir jetzt vorgehen. Um meinen Schlaf zu regulieren, nehme ich abends eine quasi homöopathische Dosis eines Medikamentes, das auch zur Behandlung von Psychosen eingesetzt wird. In dieser geringen Dosierung wirkt es ausschließlich schlaffördernd und zeigt zum Glück keine unerwünschten Nebenwirkungen. Wenn ich das Gefühl bekomme, den Bodenkontakt zu verlieren, erhöhe ich die Dosis in Absprache mit meinem Arzt geringfügig. Nach ein paar Tagen bin ich wieder auf der sicheren Seite. Meinen Psychiater sehe ich seit über 15 Jahren etwa alle sechs Wochen. Ich weiß nicht, ob man da von einer ständigen Behandlung sprechen kann. Ich sehe ihn eher als eine Art Fluglotsen, der mir von neutraler Warte aus meine Flughöhe durchgibt. Dieses Modell hat sich für mich seit vielen Jahren bestens bewährt.
„Ich sehe meinen Psychiater als eine Art Fluglotsen, der mir von neutraler Warte aus meine Flughöhe durchgibt.“
War es ein schwieriger Weg, an diesen Punkt zu gelangen? Leben Sie in ständiger Angst vor einem Rückfall?
Es war ein langer und schwieriger Lernprozess, der mit beträchtlichen sozialen und finanziellen Verlusten verbunden war. Ich durchlebte viele Höhenflüge mit darauffolgenden Abstürzen und Phasen des Wieder-Hochrappelns, bis ich diese Lektion gelernt und verinnerlicht hatte. Und klar, es ist für mich auch heute nicht ganz einfach, die richtige Balance zwischen einer ängstlichen Daueralarmbereitschaft und dem lässigen Abtun von Frühwarnsymptomen zu finden, aber es geht und ich lebe die meiste Zeit über ziemlich „normal“ – was immer dieses Wort auch bedeuten mag.
Erinnern Sie sich noch, wie sich die Krankheit bei Ihnen zuerst bemerkbar gemacht hat?
Das war 1979. Zunächst fiel ich nach dem ersten, sehr erfolgreichen Jahr als professioneller Musiker in ein tiefes emotionales Loch – heute würde man wohl Burnout dazu sagen. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, es war einfach nur schrecklich und trostlos. Als diese depressive Krise nach ein paar Monaten vorbeiging, kippte mein Zustand ins Gegenteil und ich erlebte den ersten manischen Höhenflug. Zuerst fühlte es sich fantastisch an, schlug dann aber nach kurzer Zeit in eine paranoide Psychose um. Diese Phase war dann überhaupt nicht mehr lustig. Ich konnte mit dieser unglaublichen Energie, den Ideen, dem Gedankenrasen und den vielen hochfliegenden Projekten, die ich in dieser Zeit entwickelte, einfach nicht umgehen. Es war schlicht zu viel – und ich baute auch körperlich rasant ab.
Und dann? Haben Sie sich sofort Hilfe gesucht?
An einem bestimmten Punkt sagten meine Freunde, das könne so nicht weitergehen und brachten mich in eine psychiatrische Klinik, wo ich mit Medikamenten wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht wurde. Etwas unsanft, aber wirksam. Ich selbst wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mir dort Hilfe zu suchen.
Wie haben Sie die Diagnose damals empfunden? Schock oder Erleichterung oder beides?
Die Diagnose kam erst acht Jahre später, nach der dritten Manie und dem zweiten Klinikaufenthalt. Bei mir löste die Bezeichnung „manisch-depressiv“ zunächst nur Unverständnis aus. Es gab – anders als heute – kaum Informationen dazu. Das Wenige, was ich kriegen konnte, habe ich gelesen und mich in manchem wiedergefunden, in vielem aber gar nicht. Es dauerte noch lange Jahre, bis ich die Diagnose endlich akzeptieren konnte. Bis dahin betrachtete ich die manischen Episoden nicht als krankhaft, sondern als eine Art Geburtswehen auf dem Weg zu meinem eigentlichen Ich. Vielleicht ist da ja sogar was dran – ich weiß es nicht.
Über die Folgen körperlicher Erkrankungen sind wir heute sehr gut informiert. Doch bei psychischen Erkrankungen ist dies nicht der Fall. Wie hat sich die bipolare Störung auf Ihr Leben ausgewirkt?
Drastisch. Ich musste meine berufliche Laufbahn für ein Vierteljahrhundert unterbrechen, meine Ehe ging wegen der Erkrankung in die Brüche, einige Freundschaften und viel Materielles habe ich durch die manischen Zeiten verloren. Doch trotz dieser „Kollateralschäden“ habe ich ein reiches und erfülltes Leben – und empfinde fast so etwas wie Dankbarkeit. Denn ich habe in den manischen, depressiven und auch in den psychotischen Zeiten die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt und Dinge erlebt und gesehen, die andere wahrscheinlich nur durch den massiven Einsatz bewusstseinserweiternder Drogen erfahren können. Abgesehen davon sind durch diese Erfahrungen auch einige interessante und ungewöhnliche Songtexte entstanden (lacht).
„Durch meine Erkrankung habe ich die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt.“
Wie reagieren die Menschen heute, wenn Sie ihnen von Ihrer Erkrankung erzählen?
Früher hielt ich mich da sehr bedeckt. Niemand sollte davon erfahren und ich schämte mich, so einen „Makel“ zu haben. Wer möchte schon psychisch krank sein? Mittlerweile gehe ich absolut offen damit um: Ich dränge das Thema niemandem auf, aber wenn ich gefragt werde, wieso ich eine Rente beziehe, verstecke ich mich nicht mehr und erzähle, was Sache ist. Und seltsam: Bis jetzt habe ich noch keine einzige schlechte Erfahrung damit gemacht, im Gegenteil. Jeder Gesprächspartner hat entweder eigene Erfahrungen in dieser Richtung oder kennt zumindest jemanden, der psychische Probleme hatte oder hat. Daraus ergeben sich oft gute und sehr tiefe Gespräche, weitab von jedem Smalltalk.
„Mittlerweile gehe ich absolut offen mit meiner Erkrankung um – und habe bisher noch keine einzige schlechte Erfahrung gemacht.“
Sind Stigma, Vorurteile und Diskriminierung noch ein Thema?
Oh ja, leider! Durch den tragischen Tod des Fußballers Robert Enke vor ein paar Jahren wurde es immerhin salonfähig, über Depressionen zu sprechen – das Thema ging ja damals durch alle Talkshows. Doch über die „härteren Sachen“ wie Schizophrenie, Borderline oder eben bipolare Störungen wirft man immer noch den Mantel des Schweigens. Liegt es daran, dass im Grunde jeder weiß, dass es jeden treffen könnte? Oder sitzt tief drin immer noch das Bild des gefährlichen Irren, das in vielen Filmen zementiert wurde? Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir über eins ganz sicher: Nur wenn wir darüber reden, ändert sich etwas an der Stigmatisierung. Wenn es eines Tages möglich ist, über psychische Erkrankungen so scham- und angstfrei zu sprechen wie über Bluthochdruck oder Migräne, könnten viele Menschen bedeutend leichter und freier leben.
Sie wurden mehrmals in einer psychiatrischen Klinik behandelt, nicht immer freiwillig. Was für ein Bild haben Sie heute von der Psychiatrie und Psychotherapie?
Ich war dreimal in psychiatrischen Kliniken, jeweils in der geschlossenen Abteilung und kein einziges Mal aus eigenem Willen. Die ersten beiden Erfahrungen waren nicht gut, zum Teil sogar entsetzlich. Danach war die Psychiatrie zunächst einmal ein Angstgegner für mich. Erst beim dritten Aufenthalt hat sich das Bild gewandelt. Da habe ich echte Hilfe und Menschlichkeit erfahren und seitdem sehe ich die psychiatrischen Kliniken in einem anderen Licht, deren Angebote ich in Krisen auch von mir aus in Anspruch nehmen würde.
Was macht einen guten Psychiater aus?
Für mich in allererster Linie: Menschlichkeit. Echtes Interesse an den Patienten als Personen, sie nicht als „Fälle“ zu betrachten, sondern als gleichwertige Mitmenschen, die sich in einer Notlage befinden und denen der Psychiater seine fachliche Unterstützung anbieten kann. Und ein Verhältnis auf Augenhöhe, welches beinhaltet, den Patienten eben auch mal eigene Wege gehen zu lassen – selbst wenn der Therapieplan etwas anderes vorsieht.
Sie betreuen eine Selbsthilfegruppe. Was ist die häufigste Frage, die Ihnen von anderen Betroffenen gestellt wird? Wie lautet Ihre Antwort?
Die Zürcher Bipolar-Gruppe habe ich 2007 gegründet – weniger, um selbst Hilfe und Unterstützung zu bekommen, als um anderen den Austausch und die gegenseitige Hilfe zu ermöglichen. Eine häufigste Frage gibt es so nicht, aber was immer wieder aufkommt, ist: Kann man mit einer bipolaren Störung umgehen und ein lebenswertes Leben damit führen? Die Antwort ist: Ja, man kann! Es braucht viel Willen und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen und konsequent dranzubleiben, aber es ist möglich und machbar und – es lohnt sich!
„Kann man mit einer bipolaren Störung umgehen und ein lebenswertes Leben damit führen? Die Antwort ist: Ja, man kann!“
Du willst mehr über das Thema bipolare Störung und Martin Kolbe erfahren? Aber gerne! Hier die wichtigsten Links:
- www.dgbs.de
- www.martin-kolbe.com
- www.bipolar-roadshow.de