Interview
Bevor wir uns den Angststörungen widmen, welche durchaus positiven Aspekte hat Angst?
Angst ist – genau wie Freude, Trauer, Überraschung, Liebe oder Hass – eine Basisemotion, die in allen Kulturen ganz essenziell zur menschlichen Existenz gehört. Warum? Angst ist zunächst einmal überlebensnotwendig, Angst stellt ein Alarmsystem dar, das uns warnt, wenn Gefahr im Verzug ist, uns vor Übermut und Fahrlässigkeit bewahrt und uns in Situationen der unmittelbaren Bedrohung zur Fight-, Flight- oder Freeze-Reaktion befähigt. Die Angst kann aber auch Flügel verleihen und uns zur Höchstleistung antreiben, wie es im „Yerkes-Dodson-Gesetz“ heißt: nicht die Abwesenheit von Angst, sondern ein mittleres Maß an Anspannung führt zum optimalen Abruf unserer Leistungsfähigkeit. Und schließlich ist Angst gewissermaßen das Salz in der Suppe des Lebens: Horrorfilme und Geisterbahnen, Bungee-Jumping und Kriminalromane spielen mit dem Nervenkitzel, dem Thrill, dem delightful horror, der sogenannten Angstlust.
Was ist an Angsterkrankungen besonders im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen?
Vielleicht ist ein besonderer Aspekt, dass sich Angsterkrankungen – anders als z. B. Psychosen oder Demenzen – im Bereich des Nachvollziehbaren bewegen. Angst ist ein Urinstinkt, der primär alles andere als pathologisch ist. Wenn sich die Angst allerdings verselbständigt, wenn sie auftritt, obwohl keine objektive Gefahr besteht, wenn sie übermäßig lang andauert, wenn sie zu häufig auftritt und wenn sie mit erheblichen Beeinträchtigungen im alltäglichen, beruflichen oder persönlichen Leben inklusive Leidensdruck verbunden ist, dann wird die Angst zur Angsterkrankung.
Gibt es einen Unterschied zwischen Furcht und Angst?
In der Tat haben schon die alten Griechen und auch Philosophen wie zum Beispiel Søren Kierkegaard und Martin Heidegger unterschieden zwischen Furcht und Angst. Furcht (altgriechisch Phobos) ist immer auf etwas Bestimmtes gerichtet. Das kann ein Objekt oder eine Situation sein. Angst tritt eher ungerichtet, unbestimmt und unvorhersehbar auf.
Wie kommt es zu so ausgefallenen Phobien wie der Angst vor der Zahl 13?
Die Triskaidekaphobie, also die Furcht vor der Zahl 13, wurzelt im gesellschaftlich tradierten Aberglauben oder falsch verstandenen Glauben, wenn man Judas als den 13. Apostel annimmt.
Was passiert mit einem Menschen während er Angst hat? Ist das bei jedem gleich?
Angst äußert sich tatsächlich relativ ähnlich bei allen Menschen. Der Ausdruck von Angst ist sogar über die Spezies hinweg evolutionär gut konserviert wie das schon Charles Darwin in seinem Werk „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren“ festgestellt hat. Die Angst ist meist begleitet von Schwitzen, Zittern, Tachykardien und Palpitationen, Luftnot, Hitze- oder Kälteschauern, Schwindel, Benommenheit, Derealisations- oder Depersonalisationserleben und dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, im Extremfall sogar der Angst, verrückt zu werden oder sterben zu müssen. Wer die Symptome der Angst belletristisch nachlesen mag, dem sei das Buch „Angst“ von Stefan Zweig empfohlen.
Worin liegen die Ursachen von Angsterkrankungen? Gibt es Angst-Gene?
Die Entstehung von Furcht, Angst und Angsterkrankungen ist multifaktoriell, d. h. es handelt sich dabei um das Zusammenspiel vieler Risikofaktoren. Dazu gehören biologische und Umweltfaktoren wie Stress, Trennungsereignisse, chronische Belastungen oder Traumata, die im Sinne des sogenannten „Vulnerabilitäts-Stress-Modells“ die Entstehung von Angsterkrankungen in einer komplexen und wahrscheinlich individuell sehr unterschiedlichen Interaktion begünstigen.
Die Entstehung von Furcht, Angst und Angsterkrankungen ist multifaktoriell.
Zu den biologischen Faktoren gehören sicherlich auch genetische Varianten, nachdem in Zwillingsstudien eine Heritabilität von 30 bis 68 Prozent nachgewiesen wurde – wobei Hunderte bis Tausende von solchen genetischen Varianten zusammenkommen müssen, um das genetische Risiko für eine Angsterkrankung zu erhöhen.
Warum werden viele Angsterkrankungen nicht behandelt?
Das liegt zum Teil daran, dass die Betroffenen oft primär nicht wissen, dass es sich um eine Angsterkrankung handelt. So stellen sich beispielsweise Patienten mit einer Panikstörung zunächst und wiederholt in der Notaufnahme oder bei somatisch tätigen Kollegen vor und werden oftmals erst nach einiger Zeit zu einem psychiatrischen, psychosomatischen oder psychotherapeutischen Fachkollegen überwiesen. Ein weiterer Grund für die Unterbehandlung ist die Tatsache, dass sich viele Betroffene aufgrund ihrer Angsterkrankung selbst – wie z. B. bei einer Sozialen Phobie – scheuen, das Haus zu verlassen oder Kontakt mit einem Therapeuten aufzunehmen. Entsprechend wichtig ist die Aufklärung der Gesellschaft über Angsterkrankungen und die Einbindung von Angehörigen, Freunden und Hausärzten in das Hilfesystem.
Wie sieht die Behandlung aus? Wie gut sind die Erfolge?
Die Behandlung von Angsterkrankungen beruht neben allgemeinen Maßnahmen wie Stressreduktion, sportliche Betätigung, schlafhygienische Maßnahmen sowie Achtsamkeits- und Entspannungsübungen auf zwei Säulen. Zunächst kommt der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) eine wichtige Rolle zu, bei der die Patienten nach der Psychoedukation lernen, sich in Expositionsübungen an ihre Angst zu gewöhnen. Das Prinzip lautet also zu habituieren, um der Angst ihren Schrecken zu nehmen. Psychodynamische Therapieverfahren können bei tiefergehenden biographischen oder in der Persönlichkeit verankerten Problemen hilfreich sein. Die zweite Säule der Therapie – vor allem bei schwerer ausgeprägten Angsterkrankungen – stellt die Pharmakotherapie dar, bei der gut verträgliche und nicht abhängigkeitserzeugende Medikamente wie Serotoninwiederaufnahmehemmer
(SSRIs) eingesetzt werden.
Insgesamt ist die Therapie von Angsterkrankungen sehr erfolgreich.
Über 80 Prozent der Betroffenen kann hervorragend im ambulanten Rahmen geholfen werden. Sollten komorbide Erkrankungen wie eine Depression oder Suchterkrankung bestehen, kann die Therapie in einem tagesklinischen oder stationären Setting eskaliert werden.
Inwiefern kann neueste Technik von Nutzen sein?
Neueste Technik kommt insbesondere im Rahmen der Psychotherapie zum Einsatz. So kann man Expositionsübungen ganz exzellent in der virtuellen Realität (VR) durchführen, indem z. B. Patienten mit einer Höhen- oder Flugangst in einem 3D-Environment, das über eine Brille oder einen Helm eingespielt wird, auf hohe Türme steigen lässt oder im Flugzeug Turbulenzen simuliert. Auch Techniken des Ecological Momentary Assessment (EMA) können helfen, Patienten über bestimmte Uhren oder Apps auf dem Smartphone in ihrem Alltag zu monitoren und z. B. im Fall einer Agoraphobie den Bewegungsradius zu dokumentieren. Schließlich kommen angesichts der langen Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz Verfahren der computer- oder internetgestützten Psychotherapie zunehmend Bedeutung zu, wobei diese allerdings eine „face-to-face“-Psychotherapie nicht ersetzen können.
Woran forschen Sie aktuell?
Seit einigen Jahren gilt unser Forschungsinteresse u. a. im Rahmen des von der DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs „Furcht, Angst, Angsterkrankungen“ oder des BMBF PROTECT-AD Verbunds der Rolle der Epigenetik bei der Entstehung und Therapie von Angsterkrankungen. Die Epigenetik fungiert als eine Art biochemisches Scharnier zwischen der genetischen Ebene und der Umweltebene, sozusagen als Dolmetscher zwischen biologischen Risikofaktoren und auslösenden Umweltfaktoren wie Traumata oder Stress. So konnten wir zeigen, dass kürzlich erlebte negative Lebensereignisse wie z. B. Trennungen, finanzielle Sorgen oder Stress mit einer Hypomethylierung des Monoaminoxidase A (MAOA)-Gens und damit wahrscheinlich einer Aktivierung dieses Risikogens korrelieren.
Die Epigenetik fungiert als eine Art biochemisches Scharnier zwischen der genetischen Ebene und der Umweltebene.
Eine solche Hypomethylierung des MAOA-Gens war weiterhin mit einem erhöhten Risiko für die Panikstörung und die Höhenangst assoziiert. Interessanterweise schien eine erfolgreiche kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapie diese MAOA-Hypomethylierung wieder zu normalisieren, d. h. Patienten mit Panikstörung und Höhenangst, die auf die Therapie ansprachen, zeigten nach der Therapie eine Erhöhung der MAOA-Methylierung und waren darin dann nicht mehr von gesunden Kontrollen zu unterscheiden. Dies könnte ein erster Hinweis darauf sein, dass Psychotherapie womöglich sogar auf Zellkern, also auf Genexpressionsebene, über eine Modifikation epigenetischer Risikomuster ihre Wirkung entfaltet und den epigenetischen Schalter wieder von „Risiko“ auf „Resilienz“ umlegen kann. Allerdings handelt es sich dabei um die weltweit ersten Befunde dazu, die der Replikation in großen, unabhängigen Stichproben bedürfen, bevor man hier von belastbaren Erkenntnissen sprechen kann.
Und was hat Sie an Ihrem Projekt „Angst in der Kunst“ insbesondere gereizt?
Die Psychiatrie und Psychotherapie gehört zu den Fächern der sogenannten „Sprechenden Medizin“. Allerdings fehlen den Patienten im klinischen Alltag oft die Worte, ihre Angst zu beschreiben – für sie ist die Angst sozusagen unaussprechlich schrecklich. Daher hat es mich gereizt, die Formen und verschiedenen Aspekte der Angst in einem visuellen Medium, eben der bildenden, gestaltenden Kunst aufzuspüren. Die etwa 70 Kunstwerke, die sich explizit mit dem Thema Angst, Furcht oder Schrecken befassen und im Buch „Angst in der Kunst“ kommentiert werden, können hoffentlich etwas dazu beitragen, die Angst für Patienten, aber auch für Angehörige, Fachleute und die Gesellschaft im Ganzen anschaulicher und damit greifbarer, verständlicher, handhabbarer und letztlich bewältigbarer zu machen. Und: ich möchte mit diesem Buch ein wenig zur Entstigmatisierung von Angsterkrankungen beitragen: Während die Öffentlichkeit bei psychischen Erkrankungen noch immer viel zu häufig wegschaut, darf und soll man in diesem Projekt der Angst im Spiegel der Kunst ins Auge sehen.
Links:
- Buch: Angst in der Kunst (Kohlhammer-Verlag)
- Gesellschaft für Angstforschung e. V. (GAF)