Interview
Immer alles oder nichts: Für Menschen mit Borderline gibt es kein Dazwischen. Sie sind ihren heftigen Gefühlen völlig ausgeliefert und stehen ständig unter Strom. Was das für Konsequenzen für ihr Leben und ihre Gesundheit haben kann, schildert der Psychiater Stefan Röpke von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Als Oberarzt leitet er dort den Bereich für Persönlichkeitsstörungen und Posttraumatische Belastungsstörung.
Herr Röpke, woher kommt eigentlich die Bezeichnung „Borderline“?
Früher dachte man, die Borderline-Störung sei eine Erkrankung, welche die Grenze zwischen der Neurose und der Psychose darstellt, eine Art leichte Schizophrenie. Heute weiß man, dass diese Annahme so nicht stimmt. Das Krankheitsbild ist jetzt genauer definiert und zählt heute zu den Persönlichkeitsstörungen. Der Begriff „Borderline“ – im Englischen bedeutet er Grenzlinie – ist jedoch geblieben. Mittlerweile gibt es viele Stimmen, die eine Umbenennung fordern.
Warum haben Sie sich gerade auf diese Erkrankung spezialisiert?
Mich fasziniert, wie Menschen miteinander in Kontakt treten und ihre Beziehungen gestalten. Das hat mich zu den Persönlichkeitsstörungen gebracht. An der Borderline-Störung finde ich spannend, dass es Menschen gibt, die sich sehr nach engen positiven und dauerhaften Beziehungen sehnen, auch alles Mögliche dafür tun und es leider doch nicht schaffen. Ich möchte die Betroffenen dabei unterstützen, ihre Krankheit zu verstehen und einen Weg aus ihrem inneren Chaos zu finden.
Wie diagnostizieren Sie als Psychiater Borderline?
Wir verwenden in der Psychiatrie offiziellen Diagnostikmanuale und -instrumente. Es gibt neun verschiedene Kriterien, die zu einer Diagnose führen. Dazu gehören zum Beispiel: starke Stimmungsschwankungen, ausgeprägte Impulsivität oder Angst vor dem Verlassenwerden. Liegen mindestens fünf Kriterien über eine bestimmte Zeit vor und rufen diese bei den Betroffenen Leid hervor, liegt eine Borderline-Störung vor. Um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Pubertätsphase handelt, wird die Diagnose immer erst ab dem 18. Lebensjahr gestellt.
„Menschen mit Borderline leiden unter starken Anspannungen und Stimmungsschwankungen.“
Wie äußert sich die Krankheit bei den Patienten?
Menschen mit einer Borderline-Störung leiden seit der Jugend oder Kindheit unter starken Anspannungen und Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen und impulsiven Handlungen. Das betrifft vor allem exzessives Shopping, Drogenkonsum, Essen und Sex. Außerdem haben Borderliner große Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung. In ihren Partnerschaften gibt es ein ständiges Auf und Ab. Stehen Borderliner unter hohem Stress können auch psychotische Symptome auftreten. Das sind beispielsweise irrationale Ängste vor Bedrohung oder Verfolgung oder auch das Hören von Stimmen. Darüber hinaus kommen auch dissoziative Symptome vor.
Was bedeutet das?
Die Betroffenen spüren dann zum Beispiel ihren eigenen Körper nicht mehr oder fühlen sich wie abgeschnitten von der Umgebung. Patienten berichten auch von einem Gefühl innerer Leere. Menschen mit Borderline-Störung haben meist über viele Jahre hinweg Suizidgedanken und verletzen sich selbst, um negative Zustände und belastenden Gefühle und Gedanken loszuwerden.
Wie wirkt sich Borderline auf das Leben der Betroffenen und das ihrer Angehörigen aus?
Zunächst leiden sie natürlich unter den Symptomen der Störung. Langfristig kommt hinzu, dass infolge der Erkrankung Lebensjahre verloren gehen und wichtige Etappen in der Entwicklung verpasst werden. Borderliner schließen die Schule oftmals viel schlechter oder gar nicht ab und auch die Ausbildung oder das Studium werden häufig nicht beendet. Menschen mit Borderline-Störung fällt aber auch die Gründung einer Familie schwer, da die Krankheit langfristige positive Partnerschaften verhindert. Heute wissen wir, dass die Betroffenen zudem viel anfälliger für körperliche Erkrankungen sind. Sie leiden zum Beispiel viel häufiger an Herz-Kreislauferkrankungen, Gelenkproblemen oder Schmerzsyndromen. Im Alter leben sie oft sozial isoliert und mit wenig Geld.
„Wir müssen uns auf unsere Patienten einlassen und mit ihnen in eine therapeutische Beziehung treten.“
Welche Fähigkeiten muss ein Psychiater mitbringen, damit er mit Menschen umgehen kann, die ihre Gefühlswelt so intensiv erleben wie Borderline-Betroffene?
Aus meiner Sicht sind die meisten der notwendigen Fähigkeiten erlernbar. Grundvoraussetzung ist aber, dass ein echtes Interesse an den Patienten besteht – und über die Berufsjahre auch bestehen bleibt. Als Psychiater können wir nicht einfach einen Gipsverband anlegen oder eine OP durchführen. Wir müssen uns auf unsere Patienten einlassen, mit ihnen in eine therapeutische Beziehung treten und sie auf ihrem Weg aus der Störung heraus begleiten.
„Psychotherapie ist der Kern der Behandlung.“
Wie wird Borderline behandelt? Welche Ansätze gibt es?
Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten, diese sind der Kern der Behandlung. Zusätzlich stehen auch Medikamente zur Verfügung, die wir in Absprache mit den Patienten einsetzen können. Doch was die Erforschung von Medikamenten zur Behandlung der Borderline-Störung anbelangt, besteht noch großer Forschungsbedarf.
Was sind die besonderen Herausforderungen in der Therapie?
Da sich die Borderline-Störung auch stark auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen auswirkt, ist davon auch das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut betroffen. Viele Patienten sind anfänglich sehr misstrauisch, haben Ängste, sind ärgerlich oder schämen sich. Es fällt ihnen oft sehr schwer, über ihre Erkrankung zu sprechen. Viele ihrer Verhaltensweisen – zum Beispiel die häufigen Wutanfälle, das Ritzen oder die Suizidversuche – verstehen sie selbst nicht. Deshalb muss ich als Psychiater zunächst alle Aspekte der Krankheit erfassen und die Patienten aufklären.
Wie groß sind die Heilungschancen oder ist Borderline ähnlich wie eine Sucht immer präsent?
Die gute Nachricht ist, dass die Borderline-Störung mit der Zeit zurückgeht, selbst ohne Therapie. Mit Mitte 40 leiden nur noch sehr wenige Menschen daran. Außerdem stehen die Chancen gut, dass die Symptome nicht wieder kommen, wenn sie einmal verschwunden sind.
„Ich bin jeden Tag aufs Neue mit der Vielseitigkeit des Menschen konfrontiert.“
Borderliner können besonders schwer Vertrauen aufbauen. Was bedeutet das für die Arzt-Patienten-Beziehung?
Der Arzt muss besonders geschult sein, um gut mit den Patienten umgehen zu können. Ihre Wut, ihren Ärger und Hass darf man nicht auf sich beziehen. Um Verständnis für die Patienten aufbringen und mit ihnen arbeiten zu können, muss man als Arzt das Krankheitsbild deshalb sehr genau kennen.
Was ist das Faszinierende an Ihrem Beruf?
Ich bin jeden Tag aufs Neue mit der Vielseitigkeit des Menschen konfrontiert. Innerhalb der Medizin nimmt die Psychiatrie heute eine zentrale Rolle ein. So wissen wir, dass psychische Störungen eng mit vielen anderen körperlichen Erkrankungen zusammenhängen. Das Fachgebiet ist nicht nur vielseitig, es gibt auch unglaublich viel zu entdecken: Denn viele Fragen zu den Ursachen von psychischen Erkrankungen konnten bisher noch nicht geklärt werden. Wenn wir hier vorwärts kommen, werden sich unsere Therapien in den nächsten Jahren noch deutlich verbessern.