Borderline ist kein Fashion Blog.

Borderline bezeichnet eine komplexe psychische Störung, die extreme Stimmungsschwankungen verursacht und Beziehungen zerstört. Die Betroffenen fühlen sich innerlich zerrissen, gehen ständig ans Limit und sind so angespannt, dass sie sich selbst verletzen. Anders als Fashion Victims brauchen Borderliner deshalb professionelle Unterstützung: ganzheitliche psychiatrische Behandlung, die dafür sorgt, dass das Leben nicht aus den Fugen gerät.

Interview

Immer alles oder nichts: Für Menschen mit Borderline gibt es kein Dazwischen. Sie sind ihren heftigen Gefühlen völlig ausgeliefert und stehen ständig unter Strom. Was das für Konsequenzen für ihr Leben und ihre Gesundheit haben kann, schildert der Psychiater Stefan Röpke von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Als Oberarzt leitet er dort den Bereich für Persönlichkeitsstörungen und Posttraumatische Belastungsstörung.

Herr Röpke, woher kommt eigentlich die Bezeichnung „Borderline“?
Früher dachte man, die Borderline-Störung sei eine Erkrankung, welche die Grenze zwischen der Neurose und der Psychose darstellt, eine Art leichte Schizophrenie. Heute weiß man, dass diese Annahme so nicht stimmt. Das Krankheitsbild ist jetzt genauer definiert und zählt heute zu den Persönlichkeitsstörungen. Der Begriff „Borderline“ – im Englischen bedeutet er Grenzlinie – ist jedoch geblieben. Mittlerweile gibt es viele Stimmen, die eine Umbenennung fordern.

Warum haben Sie sich gerade auf diese Erkrankung spezialisiert?
Mich fasziniert, wie Menschen miteinander in Kontakt treten und ihre Beziehungen gestalten. Das hat mich zu den Persönlichkeitsstörungen gebracht. An der Borderline-Störung finde ich spannend, dass es Menschen gibt, die sich sehr nach engen positiven und dauerhaften Beziehungen sehnen, auch alles Mögliche dafür tun und es leider doch nicht schaffen. Ich möchte die Betroffenen dabei unterstützen, ihre Krankheit zu verstehen und einen Weg aus ihrem inneren Chaos zu finden.

Wie diagnostizieren Sie als Psychiater Borderline?
Wir verwenden in der Psychiatrie offiziellen Diagnostikmanuale und -instrumente. Es gibt neun verschiedene Kriterien, die zu einer Diagnose führen. Dazu gehören zum Beispiel: starke Stimmungsschwankungen, ausgeprägte Impulsivität oder Angst vor dem Verlassenwerden. Liegen mindestens fünf Kriterien über eine bestimmte Zeit vor und rufen diese bei den Betroffenen Leid hervor, liegt eine Borderline-Störung vor. Um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Pubertätsphase handelt, wird die Diagnose immer erst ab dem 18. Lebensjahr gestellt.

„Menschen mit Borderline leiden unter starken Anspannungen und Stimmungsschwankungen.“

Wie äußert sich die Krankheit bei den Patienten?
Menschen mit einer Borderline-Störung leiden seit der Jugend oder Kindheit unter starken Anspannungen und Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen und impulsiven Handlungen. Das betrifft vor allem exzessives Shopping, Drogenkonsum, Essen und Sex. Außerdem haben Borderliner große Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung. In ihren Partnerschaften gibt es ein ständiges Auf und Ab. Stehen Borderliner unter hohem Stress können auch psychotische Symptome auftreten. Das sind beispielsweise irrationale Ängste vor Bedrohung oder Verfolgung oder auch das Hören von Stimmen. Darüber hinaus kommen auch dissoziative Symptome vor.

Was bedeutet das?
Die Betroffenen spüren dann zum Beispiel ihren eigenen Körper nicht mehr oder fühlen sich wie abgeschnitten von der Umgebung. Patienten berichten auch von einem Gefühl innerer Leere. Menschen mit Borderline-Störung haben meist über viele Jahre hinweg Suizidgedanken und verletzen sich selbst, um negative Zustände und belastenden Gefühle und Gedanken loszuwerden.

Wie wirkt sich Borderline auf das Leben der Betroffenen und das ihrer Angehörigen aus?
Zunächst leiden sie natürlich unter den Symptomen der Störung. Langfristig kommt hinzu, dass infolge der Erkrankung Lebensjahre verloren gehen und wichtige Etappen in der Entwicklung verpasst werden. Borderliner schließen die Schule oftmals viel schlechter oder gar nicht ab und auch die Ausbildung oder das Studium werden häufig nicht beendet. Menschen mit Borderline-Störung fällt aber auch die Gründung einer Familie schwer, da die Krankheit langfristige positive Partnerschaften verhindert. Heute wissen wir, dass die Betroffenen zudem viel anfälliger für körperliche Erkrankungen sind. Sie leiden zum Beispiel viel häufiger an Herz-Kreislauferkrankungen, Gelenkproblemen oder Schmerzsyndromen. Im Alter leben sie oft sozial isoliert und mit wenig Geld.

„Wir müssen uns auf unsere Patienten einlassen und mit ihnen in eine therapeutische Beziehung treten.“

Welche Fähigkeiten muss ein Psychiater mitbringen, damit er mit Menschen umgehen kann, die ihre Gefühlswelt so intensiv erleben wie Borderline-Betroffene?
Aus meiner Sicht sind die meisten der notwendigen Fähigkeiten erlernbar. Grundvoraussetzung ist aber, dass ein echtes Interesse an den Patienten besteht – und über die Berufsjahre auch bestehen bleibt. Als Psychiater können wir nicht einfach einen Gipsverband anlegen oder eine OP durchführen. Wir müssen uns auf unsere Patienten einlassen, mit ihnen in eine therapeutische Beziehung treten und sie auf ihrem Weg aus der Störung heraus begleiten.

„Psychotherapie ist der Kern der Behandlung.“

Wie wird Borderline behandelt? Welche Ansätze gibt es?
Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten, diese sind der Kern der Behandlung. Zusätzlich stehen auch Medikamente zur Verfügung, die wir in Absprache mit den Patienten einsetzen können. Doch was die Erforschung von Medikamenten zur Behandlung der Borderline-Störung anbelangt, besteht noch großer Forschungsbedarf.

Was sind die besonderen Herausforderungen in der Therapie?
Da sich die Borderline-Störung auch stark auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen auswirkt, ist davon auch das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut betroffen. Viele Patienten sind anfänglich sehr misstrauisch, haben Ängste, sind ärgerlich oder schämen sich. Es fällt ihnen oft sehr schwer, über ihre Erkrankung zu sprechen. Viele ihrer Verhaltensweisen – zum Beispiel die häufigen Wutanfälle, das Ritzen oder die Suizidversuche – verstehen sie selbst nicht. Deshalb muss ich als Psychiater zunächst alle Aspekte der Krankheit erfassen und die Patienten aufklären.

Wie groß sind die Heilungschancen oder ist Borderline ähnlich wie eine Sucht immer präsent?
Die gute Nachricht ist, dass die Borderline-Störung mit der Zeit zurückgeht, selbst ohne Therapie. Mit Mitte 40 leiden nur noch sehr wenige Menschen daran. Außerdem stehen die Chancen gut, dass die Symptome nicht wieder kommen, wenn sie einmal verschwunden sind.

„Ich bin jeden Tag aufs Neue mit der Vielseitigkeit des Menschen konfrontiert.“

Borderliner können besonders schwer Vertrauen aufbauen. Was bedeutet das für die Arzt-Patienten-Beziehung?
Der Arzt muss besonders geschult sein, um gut mit den Patienten umgehen zu können. Ihre Wut, ihren Ärger und Hass darf man nicht auf sich beziehen. Um Verständnis für die Patienten aufbringen und mit ihnen arbeiten zu können, muss man als Arzt das Krankheitsbild deshalb sehr genau kennen.

Was ist das Faszinierende an Ihrem Beruf?
Ich bin jeden Tag aufs Neue mit der Vielseitigkeit des Menschen konfrontiert. Innerhalb der Medizin nimmt die Psychiatrie heute eine zentrale Rolle ein. So wissen wir, dass psychische Störungen eng mit vielen anderen körperlichen Erkrankungen zusammenhängen. Das Fachgebiet ist nicht nur vielseitig, es gibt auch unglaublich viel zu entdecken: Denn viele Fragen zu den Ursachen von psychischen Erkrankungen konnten bisher noch nicht geklärt werden. Wenn wir hier vorwärts kommen, werden sich unsere Therapien in den nächsten Jahren noch deutlich verbessern.

Lexikon

Vor fünf Minuten war die Welt noch total in Ordnung, doch plötzlich ist alles anders. Die euphorischen Glücksgefühle verwandeln sich in abgrundtiefe Trauer. Die, die eben noch als gute Freunde erschienen, nerven nur. Die große Liebe wird in Nullkommanichts zur größten Enttäuschung. Im Inneren brodelt es, die Anspannung wächst und die Gefühle stehen kurz vor der Explosion. Das ist Borderline: die Krankheit, die mit enormem Leidensdruck verbunden ist und die Betroffenen völlig aus der Bahn wirft.

In ihrem Leben gibt es nur Schwarz oder Weiß.

Miese Tage haben wir alle hin und wieder. Wir ärgern uns über Kleinigkeiten, sind schlecht gelaunt und niedergeschlagen. Normalerweise können wir solchen Alltagsfrust ohne größere Probleme bewältigen und die negativen Gefühle flauen von selbst wieder ab. Aber bei Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, ist das anders. Sie haben große Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu kanalisieren und mit ihren Stimmungsschwankungen umzugehen. In ihrem Leben gibt es nur Schwarz oder Weiß. Glück, Traurigkeit, Verzweiflung Wut, Angst und Panik – alles liegt ganz dicht beieinander und kann von einem Augenblick auf den anderen umschlagen.

Was bedeutet Borderline?
Borderliner erleben sich als Opfer ihrer eigenen Gefühlsschwankungen, was zu einer extremen innerlichen Anspannung führt, die sich urplötzlich entladen kann. Schon ein verschütteter Kaffee oder ein falsches Wort reicht und es folgt ein Gefühlsausbruch. Um die unerträgliche innere Spannung abzubauen, greifen Borderliner oftmals zu drastischen Mitteln. Sie verletzen sich selbst, ritzen sich zum Beispiel immer wieder mit einem Messer oder fügen sich anderweitig Schmerzen zu. Manche flüchten sich in Alkohol und Drogen, rasen auf der Autobahn oder stürzen sich ungeschützt in Sexabenteuer, um die zerstörerischen Gefühle zu dämpfen. Oftmals leiden Borderliner an weiteren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen, Angst- oder Zwangserkrankungen. Auch wiederholte Suizidgedanken und -versuche sind ein großes Problem. Ohne rechtzeitige Therapie sterben mehr als fünf Prozent der Betroffenen durch Suizid.

Borderliner greifen zu drastischen Mitteln, um ihre innere Spannung abzubauen.

Das hat auch damit zu tun, dass Borderliner häufig mit Einsamkeit und Isolierung zu kämpfen haben. Denn Familie, Partner und Freunde wissen nicht, wie sie mit den überbordenden Gefühlen umgehen sollen. Die sich immer wiederholenden Dramen und das selbstzerstörerische Verhalten sind für sie nicht nachvollziehbar. Das Umfeld leidet unter dem Gefühlschaos der Borderliner, die plötzlichen Wutanfälle verletzen sie und das Hin und Her der Gefühle – einmal werden sie geliebt, dann wieder zurückgestoßen – verunsichert sie. Borderliner gelten deshalb als anstrengend, selbstbezogen und impulsiv. Nicht selten zieht sich ihr Umfeld deshalb von ihnen zurück, was die negativen Gefühle weiter verstärkt.

Was sind die Ursachen?
Warum Borderline entsteht, ist nicht restlos geklärt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass genetische Faktoren einen erheblichen Anteil an der Entstehung haben. Daneben gelten negative Erfahrungen und traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit als wichtige Auslöser. In mehr als der Hälfte der Fälle gab es schon im Säuglings- und Kleinkindalter sexuelle oder körperliche Gewalterfahrungen und schwere Vernachlässigung.

Drei Prozent der Bevölkerung leiden an der Borderline-Störung.

Aktuellen Schätzungen zufolge leiden etwa drei Prozent der Bevölkerung an der Borderline-Persönlichkeitsstörung – Frauen wohl etwas häufiger als Männer. Sie gilt heute als eigenes Krankheitsbild und wird in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen den emotionalen instabilen Persönlichkeitsstörungen zugeordnet. Früher siedelten Mediziner die Erkrankung im Grenzgebiet zwischen Psychose, Neurose und Persönlichkeitsstörung an. Daher auch ihr Name: Der englische Begriff „borderline“ heißt Grenzlinie.

Wie lässt sich Borderline behandeln?
Die Borderline-Störung lässt sich heute effektiv behandeln. Psychiater setzen dabei vor allem auf psychotherapeutische Verfahren. Zusätzlich können bestimmte Medikamente zum Einsatz kommen. Es existieren zwar keine Wirkstoffe, welche die Krankheit alleine heilen könnten. Aber in den letzten Jahren wurde festgestellt, dass es durchaus Medikamente gibt, welche unterstützend wirken, zum Beispiel verschiedene Stimmungsstabilisierer oder Antipsychotika. Je nach Art und Schwere der Störung dauert eine Behandlung zwischen einem und etwa drei Jahren.

Die Patienten lernen, ihre Gefühle wieder in normale Bahnen zu lenken.

In der Psychotherapie werden zum Beispiel mit der sogenannten Dialektisch-behavioralen Therapie gute Erfolge erzielt. Dabei handelt es sich um eine spezifische Form der Verhaltenstherapie, die in verschiedene Therapiephasen gegliedert ist. Das Ziel: Die Patienten lernen, problematische Verhaltensweisen wie das Ritzen unter Kontrolle zu bringen und ihre Gefühle wieder in normale Bahnen zu lenken, bevor diese außer Kontrolle geraten. Dazu setzen sie sich gemeinsam mit ihrem Psychiater mit den Ursachen und Auslösern der heftigen Stimmungsschwankungen auseinander und üben mit dem Überdruck umzugehen. Selbstverletzendes Verhalten lässt sich zum Beispiel mit kleinen „Tricks“ verhindern: Manche Patienten zählen bewusst bis zehn, sobald sie spüren, dass der innere Druck wächst. Andere verreiben einen Eiswürfel auf der Haut oder kauen auf einer Chilischote. Das klingt simpel, erweist sich aber als wirksam. Borderliner lernen dadurch, negative Emotionen früher wahrzunehmen, zu steuern und abzubauen, ohne sich selbst zu schädigen. In einer weiteren Phase der Therapie trainieren Patient und Therapeut zwischenmenschliche Fertigkeiten, arbeiten am Selbstwertgefühl sowie der Körperwahrnehmung und gehen die Probleme an, welche die Krankheit im Alltag mit sich bringt.

Daneben gibt es weitere psychotherapeutische Verfahren, die eingesetzt und kombiniert werden können. Ganz wichtig ist dabei, dass der Patient eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Psychiater oder Therapeuten aufbauen kann. Aufgrund der Krankheit kann es hier zu intensiven Situationen kommen. Gerade weil Borderliner häufig aus komplizierten Familienkonstellationen kommen, versuchen sie oftmals das therapeutische Verhältnis zu dominieren – oder sie fixieren sich viel zu stark auf ihren Therapeuten. Viele Psychiater bilden sich deshalb in Bezug auf die Behandlung von Borderline-Patienten nach ihrer Facharztprüfung spezifisch weiter.

Interview

Euphorie, Wut, Trauer, Verzweiflung, Angst: Borderliner leben in einem heftigen Gefühlschaos. Sie stehen ständig unter Anspannung und ihre Stimmung kann von einem Moment auf den anderen umschlagen. Was das für die Betroffenen bedeutet, und wie man lernen kann, die Erkrankung und die impulsiven Gefühle in den Griff zu bekommen, davon erzählt Katrin Zeddies im Interview. Die 36-Jährige ist Therapeutin, Buchautorin, Mutter eines Sohnes und engagiert sich für Grenzgänger e. V., einem Betroffenenverein für Borderliner.

Frau Zeddies, Sie bezeichnen sich als trockene Borderlinerin? Bedeutet das, dass die Krankheit zwar da, aber nicht aktiv ist?
Ja, so ungefähr. In Zeiten von starkem Stress oder innerem Ungleichgewicht ist das eine und andere Symptom erneut spürbar. Ich bin dann zum Beispiel sehr traurig oder wütend. In diesen Momenten weiß ich, dass ich etwas tun muss, um wieder ins innere Gleichgewicht zu kommen. Es ist wohl eine lebenslange Aufgabe, achtsam zu sein, damit ich die Erkrankung steuern kann – und nicht sie mich.

„Es ist eine lebenslange Aufgabe, achtsam zu sein, damit ich die Erkrankung steuern kann – und nicht sie mich.“

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist?
Mit neun Jahren habe ich mich sehr darüber erschrocken, dass ich meinen geliebten Vater plötzlich ablehnte und sogar Ekel ihm gegenüber empfand. Ich wollte zu einer Familienberatungsstelle. Heute weiß ich, dass unter meinem Ekel die Enttäuschung darüber lag, dass er für sechs Monate die Familie verließ, um Arbeit zu haben. Ich war total verunsichert und dachte, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Und ich habe ja Recht behalten, denn das Gefühl, anders zu sein, blieb.

Wie hat sich die Krankheit bemerkbar gemacht?
Ein Gefühl von Verlassenheit und tiefer Traurigkeit erfasste mich schon im Kindergarten. Ich machte mir viele Sorgen, fürchtete mich ständig. Die diagnostische Abklärung erfolgte später aber aufgrund der für Borderline schon fast klassischen Symptome: meine Suizidgedanken und das selbstverletzende Verhalten. Zuvor äußerte sich mein Leidensdruck eher physisch in Form von Migräne. Schon in meiner Kindheit habe ich oft geweint und nach Grenzen gesucht. Doch diese Suche führte nicht zum Ziel, sondern endete in Schuldzuweisung und einem daraus schlechten Gewissen. Ich wollte funktionieren, um gemocht zu werden. Daran bin ich tagtäglich gescheitert. Das hat mich noch kränker gemacht, denke ich heute.

Wie hat sich die Krankheit auf Ihr Leben ausgewirkt?
Nachdem mir Randalieren, nach Hilfe rufen und eigenmächtige Versuche, Ungerechtigkeiten auszugleichen, keine Liebe und Wohlwollen von meiner Familie und von Freunden einbrachten, lernte ich zu funktionieren, um das zu bekommen, wonach ich mich am meisten gesehnt habe. Das hat mir allerdings ebenfalls geschadet, da ich dabei auch verlernte, mir selbst zuzuhören. Gleichzeitig habe ich aus dem Leidensdruck der Erkrankung heraus auch nie damit aufgehört, herauszufinden, was mich glücklich macht. Schon verrückt, aber an Krisen wächst man am besten. Das habe ich verstanden und mir zunutze gemacht.

„Schon verrückt, aber an Krisen wächst man am besten.“

Wann haben Sie sich Hilfe gesucht?
Als ich gemerkt habe, dass ich meine Gefühle nicht mehr kontrollieren kann, war ich 15 Jahre alt. Ich stand vor der Entscheidung, ob ich leben oder sterben möchte. Sterben wollte ich nicht, aber ich wollte meine Ruhe haben. Um mir helfen zu lassen, wurde ich deshalb auf eigenen Wunsch und auf Rat meines damaligen Religionslehrers für drei Monate in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik behandelt. Leider verlief der Aufenthalt alles andere als ideal: Die zuständige Oberärztin erklärte mir, dass mir nichts weiter fehle und ich mich halt in der Pubertät befände – trotz der heftigen Symptome. Diese Einschätzung kann ich heute noch nicht verstehen. Ich fühlte mich nicht ernst genommen und dachte, dass ich ein hoffnungsloser Fall sei. Damals glaubte ich, dass ich mich nur zusammenreißen müsste und dann alles gut würde. Das war eine schlimme Zeit, denn ich habe es nicht geschafft, „normal“ zu sein.

Wann haben Sie das Wort Borderline zum ersten Mal in Bezug auf sich gehört? Wussten Sie was es bedeutet?
Nach dem Klinikaufenthalt habe ich eine Familienberatungsstelle aufgesucht, wo auch die Verdachtsdiagnose Borderline zum ersten Mal klar benannt wurde. Zu dieser Zeit las ich mein erstes Buch über die Krankheit – was mich vorerst enorm erleichterte. Denn ich erfuhr darin, dass ich gar nicht so anders bin als andere. Ich fing an, mir zu vergeben und meine Selbstvorwürfe abzubauen – was ganz erheblich zu meinem Genesungsprozess beigetragen hat. Es folgten weitere Psychotherapien und Klinikaufenthalte, die mir Stück für Stück geholfen haben.

Haben Sie eine Therapie gemacht? In einem Krankenhaus oder ambulant?
Sowohl als auch, wobei die Klinikaufenthalte meist dazu dienten, auszuruhen und Kraft zu tanken, um „draußen“ wieder funktionieren und an mir weiterarbeiten zu können. Ich denke, dass mir die ambulanten Psychotherapien am meisten genützt haben. Für diese hatte ich aber nur die Kraft, indem ich Auszeiten im geschützten Raum der Klinik nutzen konnte. Ich habe mich nicht geschont, bin dran geblieben.

So sind Sie also „trocken“ geworden?
Nach jeder Therapiesitzung habe ich aufgeschrieben, welche Erkenntnisse wir erarbeitet haben – und mich akribisch an meine „Hausaufgaben“ gemacht. Ich habe reflektiert, reflektiert und wieder reflektiert – und mich dabei immer besser kennengelernt, meine und die Grenzen meiner Umwelt spüren gelernt, konstruktiven Umgang mit Wut, Angst und Stress trainiert, herausgefunden, was ich brauche, um mit mir im Reinen zu sein und schließlich erkannt, dass ich mir selbst vertrauen muss und sogar darf.

Wie gehen Sie heute mit der Krankheit um? Wirkt sie sich noch auf Ihr Leben aus?
Nach wie vor habe ich mit Schuldgefühlen zu kämpfen, denn in der akuten Phase habe ich viele Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Deshalb ist es immer wieder wichtig, dass ich liebevoll mit mir umgehe und mir vergebe. Es ist das eine, in der Psychotherapie Zuspruch zu erhalten, aber nochmal etwas ganz anderes und eine auch unangenehme Nummer, wenn man Verantwortung für sein Verhalten übernimmt und erkennt, dass man selbst auch – Entschuldigung für den Ausdruck – ein Arschloch sein kann. Ich brauche viel Zeit für mich selbst, um mich zu spüren und zu entspannen. Fehlt diese Zeit, spüre ich, wie die Symptome aus dem Schlaf erwachen und an die Oberfläche kriechen oder plötzlich vor mir stehen und sich in Form von destruktiven Verhaltensweisen zeigen. Ich suche dann Streit mit meinem Mann oder schaffe es nicht, in mir zu ruhen. Dann ist es höchste Zeit, inne zu halten. Es klingt paradox: Aber die Erkrankung ist für mich fast ein Geschenk geworden: mein Frühwarnsystem für mein Seelenheil.

„Die Erkrankung ist mein Frühwarnsystem für mein Seelenheil.“

Wie lässt sich diese intensive Gefühlswelt, die für Borderline typisch ist, für einen Außenstehenden am besten beschreiben bzw. können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Mein Verhaltenstherapeut erklärte mir die Krankheit vor zwölf Jahren mit einem sehr passenden Vergleich: Nichtborderliner haben gefühlsmäßig einen Trabi unter dem Hintern und Borderliner einen Ferrari. Auf mich bezogen bedeutet das: Da ist keine Begrenzung zwischen mir und meinem Gegenüber, alles verschwimmt ineinander – deine Gefühle, meine Gefühle. Als gäbe es kein Rot und Blau, sondern nur Violett. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und wer du bist. Was ist mein Gefühl? Was ist dein Gefühl? Was will ich? Was brauche ich? Ich habe keine Ahnung und das macht mir Angst. Wenn ich mich zurückziehe, dann bekomme ich eine Ahnung davon, wer ich bin. Das tut bis zu einem gewissen Punkt gut, wird dann aber unangenehm und ich suche erneut nach Kontakt, um mich nicht zu spüren. Für mich gibt es keine Stille – und wenn doch, dann ist selbst diese laut und unangenehm.

„Nichtborderliner haben gefühlsmäßig einen Trabi unter dem Hintern und Borderliner einen Ferrari.“

Rückblickend gesehen: Was hätte anders laufen sollen, an welchen Punkten würden Sie etwas ändern, wenn es ginge?
Ach, ich weiß nicht. Manchmal wünsche ich mir, dumm und unsensibel zu sein. Aber dieses Was-wäre-wenn-Spiel bringt mir keinen Frieden. Alles muss irgendwie seinen Sinn haben, mir weiterhelfen im Entwicklungsprozess, mich dem inneren Frieden näher bringen. So versuche ich, mir zu sagen, dass alles gut so ist, wie es ist. Ich habe mich dafür entschieden, für mich einzustehen und anzunehmen, was ich nicht ändern kann. Und hey, ich kann stolz sein: Ich bin Mutter, Lebenspartnerin, Psychologin und Buchautorin. Wenn ich sehe, was jetzt ist, möchte ich rückblickend nichts anders haben.

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