Interview
Lockdown, Social Distancing, Verunsicherung: die Pandemie schlägt allen aufs Gemüt. Wie ist das für Menschen, die psychisch vorbelastet sind?
In der Corona-Pandemie brechen durch Homeoffice und Kontaktbeschränkungen häufig Tagesstruktur und Sozialkontakte weg. Zudem sorgen sich ständig ändernde Regelungen und Erkenntnisse über das Coronavirus für viel Unsicherheit. Dies bringt viele an ihre Belastungsgrenzen. Doch für psychisch erkrankte Menschen ist es eine ganz besondere Herausforderung. Viele Hilfsangebote, die Struktur und Halt geben, fallen gerade weg oder können nur sehr eingeschränkt genutzt werden.
Schlechte Stimmung, mies gelaunt – wo fängt eine Depression an?
Schlechte Laune hat jeder hin und wieder. Aber wenn die Stimmung durchgehend gedrückt ist, man morgens kaum aus dem Bett kommt, sich zu nichts aufraffen kann, schnell erschöpft und müde ist oder einem selbst das geliebte Hobbys keinen Spaß mehr macht, dann kann eine Depression dahinterstecken. Für die Diagnose einer Depression müssen diese Beschwerden aber mindestens zwei Wochen am Stück auftreten.
Was sind denn typische Anzeichen für eine Depression?
Eine Depression kann sich sehr vielfältig zeigen. Neben den typischen Symptomen wie gedrückte Stimmung, Antriebsmangel und Verlust von Interessen und Freude, treten häufig Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen oder Anspannung und Unruhe auf. Auch können Betroffene häufig schlecht Entscheidungen treffen, fühlen sich wertlos und sehen insgesamt schwarz. Die Beschwerden zeigen sich meist am stärksten am Morgen. Während die einen kaum noch zur Ruhe kommen, liegen andere nur noch im Bett, essen und trinken kaum und vernachlässigen die Körperhygiene.
Welche körperlichen Beschwerden deuten auf eine Depression hin?
Abnahme des Appetits, Gewichtsverlust, Schlafstörungen und fehlendes sexuelles Interesse – das sind Beispiele für körperliche Beschwerden bei Depressionen.
Wie kann ich aus eigener Kraft vermeiden, in eine Depression abzurutschen?
Sich Auszeiten zu nehmen in der Hektik des Alltags, ist das A und O. Also bewusst Zeiten einplanen, in denen man entspannen und neue Energie tanken kann.
Außerdem ist Schlaf ganz generell ein wichtiger Aspekt für psychische Gesundheit. Stichwort Schlafhygiene: geregelte Schlafzeiten, eine angenehme Schlafumgebung, viel Bewegung am Tag und Rituale vor dem Einschlafen können helfen.
Welche Signale sollten Mitmenschen hellhörig werden lassen?
Wenn eine gesellige Person anfängt sich zu Hause einzuigeln, ein leidenschaftlicher Schwimmer plötzlich das Wasser meidet oder sich eine Eule zur Lerche verwandelt und jemand ab 04:00 Uhr wach und grübelnd im Bett liegt, sollte man auf weitere typische Beschwerden einer Depression achten.
Wohin kann man sich zunächst wenden?
Erster Ansprechpartner ist wie bei allen Erkrankungen der Hausarzt. Er macht sich ein erstes Bild und verweist die Betroffenen bei Bedarf an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
In akuten Krisen, insbesondere zu Zeiten, in denen die Arztpraxen geschlossen sind, steht die Notaufnahme der zuständigen Psychiatrischen Klinik jederzeit zur Verfügung. Auch der Sozialpsychiatrische Dienst einer Region steht psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen beratend und unterstützend zur Seite.
Sind Frauen und Männer unterschiedlich depressiv?
Bei Frauen wird wesentlich häufiger die Diagnose Depression gestellt als bei Männern. Ob Frauen tatsächlich häufiger von einer Depression betroffen sind oder Depressionen bei Männern einfach häufig nicht erkannt werden, ist ein viel diskutiertes Thema. Ob Depressionen sich bei Männern anders z. B. durch Gereiztheit und Aggressivität zeigen, ist umstritten.
Hat man Depressionen für immer?
Depressionen verlaufen in der Regel in Phasen. Nach einer depressiven Phase folgt eine beschwerdefreie Phase oder zumindest eine erhebliche Abnahme der Beschwerden. Wie viele Phasen im Laufe eines Lebens auftreten, wie schwer und wie lange diese verlaufen, ist jedoch sehr individuell.
Du arbeitest in einer psychiatrischen Klinik. Wie kommen die Menschen in der Regel zu dir in Behandlung?
Das ist sehr unterschiedlich. Zum Teil kommen Betroffene selbstständig oder in Begleitung ihrer Angehörigen in unsere Notaufnahme. Viele werden auch von ihrem Hausarzt eingewiesen oder vom Rettungsdienst in unsere Klinik gebracht.
Welchen Weg haben sie dann schon zurückgelegt?
Betroffene und ihre Angehörigen können häufig zunächst nicht einordnen, was mit ihnen nicht stimmt. Zum Teil dauert es Monate oder Jahre bis die richtige Diagnose gestellt wird. Oder es kommt sogar nie dazu. Das bedeutet, dass die passende Hilfe ausbleibt.
„Es ist wichtig, dass Ärzte an der Diagnosestellung beteiligt sich, um organische Ursachen auszuschließen oder weitere Erkrankungen mitbehandeln zu können.“
Zum Teil haben die Betroffenen bereits monatelang vergeblich auf einen Arzttermin in einer psychiatrischen Praxis oder einen Psychotherapieplatz gewartet. Gerade wenn es einem durch die Depression ohnehin schwerfällt, aus dem Bett zu kommen und sich aufzuraffen, Termine und Strukturen einzuhalten, können Warteschleifen und Anrufbeantworter oder sehr begrenzte Sprechzeiten eine schier unüberwindbare Hürde darstellen.
Welche Therapiebausteine sind sinnvoll?
In einer psychiatrischen Klinik setzt sich eine Behandlung in der Regel zusammen aus therapeutischen Gesprächen, Untersuchungen zum Ausschluss körperlichen Ursachen der Beschwerden, Medikamenten und weiteren Therapien wie Ergotherapie, Kunsttherapie und Sporttherapie. Auch die Unterstützung beim Lösen konkreter sozialer Probleme – beispielsweise Schuldentilgung oder Sozialleistungen zu beantragen – können wichtige Bausteine sein.
Manchmal erscheint einem schwer depressiven Menschen seine Situation so hoffnungslos, dass er einfach nicht mehr will. Wie gehst du vor, wenn Suizidgedanken ins Spiel kommen?
Zunächst ist es wichtig, herauszufinden wie konkret die Suizidgedanken sind. Viele depressive Menschen berichten, dass sie aktuell keinen Ausweg sehen, der Gedanke an eine tödliche Krankheit oder ein plötzlicher Unfall sie umtreibt. Andere berichten von Gedanken, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. In diesem Fall ist es wichtig herauszufinden, ob die Person bereits konkrete Pläne oder sogar Vorbereitungen getroffen hat, z. B. Medikamente beschafft wurden. Es ist zudem wichtig herauszufinden, wie stark der Impuls ist, die Gedanken in die Tat umzusetzen.
„Häufig ist der Schutzraum der Klinik mit Ansprechpartnern rund um die Uhr bereits eine große Entlastung.“
Kann ein Betroffener an nichts anderes mehr denken und für nichts garantieren, ist externe Kontrolle auf einer geschützten Station gefragt, wo rund um die Uhr eine Fachperson zur Seite steht, bis es der Person wieder besser geht.
Wie geht es nach dem Klinikaufenthalt weiter? Sind Online-Therapien hier geeignet?
Nach dem Klinikaufenthalt sollte die Behandlung auf jeden Fall weiter gehen. Dies kann sehr unterschiedlich aussehen. Auf jeden Fall sollte ein Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie beteiligt sein und eine ambulante Psychotherapie erfolgen. Darüber hinaus gibt es viele weitere Angebote wie Ergotherapie, Selbsthilfegruppen oder ambulante psychiatrische Pflege. Die Zusammenstellung der Therapiebausteine sollte – wie in der Klinik – individuell erfolgen. Digitale Angebote können in bestimmten Bereichen hilfreich sein, z. B. für die Psychoedukation, also der Vermittlung von Wissen über psychische Erkrankungen. Oder sie bieten Entspannungs- und Atemübungen. Da sich junge Leute sich eher an einen Krisenchat als an ein Krisentelefon wenden, sind digitale Angebote sicher hilfreiche erste Anlaufstellen.
In Bezug auf internetgestützte Therapieangebote kommt es darauf an, auf welchem sie Ansatz basieren. Je nachdem, ob es sich um eine verhaltenstherapeutische, systemische, tiefenpsychologisch-fundierte oder analytische Psychotherapie handelt, wird der Blickwinkel auf die Erkrankung und die Bearbeitung der Probleme sich erheblich unterscheiden. Davon hängt auch ab, wie gut die Psychotherapie als Online-Therapie durchführbar ist.
„In Zeiten der Pandemie hat Videotelefonie für psychotherapeutische Sitzungen an Bedeutung gewonnen.“
Auch bei Menschen, die beruflich viel unterwegs sind oder im Ausland leben, kann dies die einzige Chance für eine Psychotherapie in der Muttersprache sein.
Betroffene können natürlich nicht isoliert gesehen werden. Was rätst du Angehörigen im Umgang mit Betroffenen? Was können sie tun, damit sie nicht selbst in einen Erschöpfungszustand rutschen?
Insbesondere bei wiederkehrenden depressiven Episoden bemerkt häufig das Umfeld eine Veränderung, bevor es der Betroffene es merkt oder wahrhaben möchte. Hilfreich können Partner, Eltern, Kinder oder Freunde aber nur sein, wenn es ihnen selbst gut geht. Dafür ist es wichtig, dass sie ihre eigenen Kräfte nicht überstrapazieren, sich auch Zeit für sich nehmen und ihre Bedürfnisse. Dabei kann ein Austausch mit anderen Angehörigen entlastend sein, zum Beispiel im Rahmen einer Angehörigengruppe, die es in vielen Kliniken gibt.
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