Interview
Was bewirkt eine Sucht im Gehirn?
Substanzen, die zu Abhängigkeit führen können, aktivieren das mesolimbische Belohnungssystem im Gehirn. Verschiedenste Neurotransmitter-Systeme werden beeinflusst – vor allem werden Dopamin und endogene Opioide freigesetzt. Je rascher und steiler der Anstieg von Dopamin ist, desto stärker der „Kick“.
Das positive Gefühl führt dazu, dass andere Reize mit der Substanzwirkung verknüpft werden. Das kann der Geruch von Bier sein, die Musik vom letzten Wochenende oder der Anblick einer Zigarettenschachtel. Diese Reize können dann zu einem späteren Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Konsum erhöhen, besonders wenn ein unausgeglichener emotionaler Zustand besteht. So können negatives Feedback im Job, Beziehungsprobleme oder einfach Stress dazu führen, dass das Verlangen aufkommt. Im Vordergrund steht dabei das ventrale Striatum bzw. der Nucleus accumbens.
Und jetzt zum „Suchtmoment“: Bei regelmäßigem Konsum wird die Verarbeitung zunehmend vom dorsalen Striatum übernommen. Durch diese Verlagerung im Gehirn wird der Konsum nicht mehr durch die „Vernunftsinstanz“ – den präfrontalen Kortex – kontrolliert und überwacht. Stattdessen laufen automatisierte Prozesse ab. Das Hirn hat auf Autopilot umgeschaltet. Gleichzeitig ist der Wunsch nach dem nächsten Kick im Belohnungssystem stark ausgeprägt, sodass es schwer wird, diesem inneren Drang zu widerstehen. Man könnte sagen, das Steuerzentrum bekommt nur noch einen Bruchteil der eigentlich relevanten Informationen und wird stattdessen mit dringenden Anfragen überschüttet. Dieser Zustand ist für viele Betroffene schwer zu durchbrechen, da sie sich ihr Verhalten erst wieder bewusst machen müssen. Das ist die Voraussetzung, dem inneren Drang, dem Craving, zu widerstehen.
Welche Areale im Gehirn sind beteiligt?
Zusätzlich zum mesolimbischen Belohnungssystem und der inhibitorischen Kontrolle durch den präfrontalen Kortex spielen eine ganze Reihe anderer Bereiche, die für unsere Stimmung und die Reaktion auf Stress zuständig sind, auch eine Rolle: Amygdala, Hypothalamus und Habenula, um genau zu sein. Relevant ist scheinbar auch die Insula, die sonst mit der Fähigkeit zur Wahrnehmung negativer Gefühle in Verbindung gebracht wird. Interessanterweise hatten Raucher, die durch einen kleinen Schlaganfall einen Defekt in der Insula hatten, keine Probleme, mit dem Rauchen aufzuhören und verspürten kein Verlangen mehr.
Ist eine Sucht also keine Charakterschwäche, oder etwas, das man mit bloßem Willen beeinflussen kann?
Eine Suchterkrankung ist biologisch begründet und beruht auf genetischer Verwundbarkeit, Entwicklungserfahrungen, Lebensereignissen und der Verfügbarkeit der Substanz. Das Schwierige ist ja eben, dass sich Suchtverhalten immer mehr der bewussten Kontrolle entzieht und automatisiert abläuft – also eine Art Teufelskreis.
Die Begriffe „Charakterschwäche“ oder „fester Wille“ unterstellen den Betroffenen, nicht aufhören zu wollen. Das ist zum einen nicht fair, da viele Betroffene große Anstrengungen unternehmen, um eine Verbesserung zu erreichen. Außerdem erschwert es den Zugang zur Behandlung, da so eine Aussage auch als Voraussetzung zur Therapie missverstanden werden kann. Das widerspricht modernen psychotherapeutischen Grundsätzen.
„Die Motivation zur Veränderung ist nicht Voraussetzung, sondern Ziel der Therapie.“
Nicht zu vergessen: Ambivalenz ist etwas sehr Menschliches. Nur, weil etwas sinnvoll ist, fällt uns die Umsetzung nicht leichter. „Ich sollte mal wieder zum Sport gehen“, „Ich sollte weniger Auto fahren“, „Ich sollte früher ins Bett gehen“ – das kennen wir alle. Bei einer Sucht kommt hinzu, dass das dorsale Striatum wie beschrieben in eine andere Richtung lenkt.
Abhängigkeitserkrankungen bei Ärzten sind ein großes Tabu. Was sind hier im Speziellen die Ursachen und Möglichkeiten der Hilfe?
Auch Ärzte sind natürlich vor psychischen Erkrankungen nicht gefeit. Aus meiner Sicht spielen hier der hohe eigene Leistungsanspruch, der herausfordernde Job und die emotional teilweise stark belastenden Erfahrungen eine Rolle. Zusätzlich können Nacht- oder Schichtdienst zu Schlafstörungen führen, die dann wieder leicht mit Alkohol oder Medikamenten „behandelt“ werden, um zu funktionieren. Dazu kommt der leichte Zugang zu einigen schnell süchtig-machenden Substanzen. Süchtiges Verhalten ist in unserer Gesellschaft stigmatisiert. Wenn man an Alkoholabhängige denkt, dann eben nicht an den kompetenten, bis zur Selbstaufgabe Arbeitenden, sondern an Obdachlose und verwahrloste Menschen.
„Wenn man an Alkoholabhängige denkt, dann an Obdachlose und verwahrloste Menschen.“
Dieses vorherrschende Bild macht es vielen Betroffenen und auch Ärzten schwer zu erkennen, dass sie selbst erkrankt sein könnten geschweige denn Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Sie sehen unter Umständen täglich die schwersten Fälle und sagen sich „so bin ich ja nicht“. Andererseits fehlt es oft an Anlaufstellen für Ärzte, die gewährleisten, nicht auf die eigenen Patienten zu treffen. Es besteht die Sorge, dann nicht mehr als kompetent wahrgenommen zu werden.
Derzeit wird eine Leitlinie zur Medikamentenabhängigkeit erarbeitet. Warum ist das ein wichtiger Schritt?
Neben Alkohol und Tabak die häufigste Abhängigkeit in Deutschland. Das ist bemerkenswert, da Medikamente eigentlich recht streng reguliert sind. Man braucht ja ein Rezept. Am häufigsten sind dabei Benzodiazepine, weiterhin vor allem Opioide, die meist zur Schmerzbehandlung eingesetzt werden. Auch wenn die Zahlen leicht rückläufig sind, braucht es mehr Verantwortungsbewusstsein bei Ärzten aller Fachrichtungen zur Vorbeugung und mehr Wissen darüber, wie man mit einer Medikamentenabhängigkeit umgeht und wie eine adäquate Therapie abläuft. Die Betroffenen kommen nur sehr selten in die suchtmedizinische Behandlung. Die meisten werden vermutlich weiter durch ihre Ärzte versorgt. Die Sorge vor einer Abhängigkeit darf andererseits nicht dazu führen, dass notwendige und indizierte Behandlungen verwehrt werden. Benzodiazepine und Opioid-Analgetika haben einen wichtigen Stellenwert in vielen Bereichen der Medizin. Da ist eine Leitlinie sehr sinnvoll, die Ärzten Hilfestellung in diesem komplexen Spannungsfeld gibt.
Worum geht es bei der Behandlung?
Ziel ist in jedem Fall, die Motivation zur Veränderung zu vergrößern. Das gelingt im Allgemeinen nicht durch Schock-Therapie durch Aussagen wie „Wenn Sie so weiter machen, sind Sie tot“ oder Vorwürfe, sondern durch einfühlsames Vorgehen. Jeder Abhängige hat ja seinen Grund, warum er weiter konsumiert, obwohl er vielleicht schon eine Reihe negativer Folgen dadurch erlitten hat. Insofern steht der psychotherapeutische Anteil der Therapie im Vordergrund. Allerdings haben wir Suchttherapeuten zu einem großen Teil der Betroffenen keinen Zugang – weniger als 10 % der Alkoholabhängigen kommen überhaupt mit dem Suchthilfe-System in Kontakt! Die erste Kontaktaufnahme findet meist beim Hausarzt, in der somatischen Klinik oder bei Suchtberatungsstellen statt. Diese eher niederschwelligen Angebote können dann – je nach Rahmenbedingung, Wunsch der Betroffenen und Schwere des Konsums – in unterschiedliche weiterführende Behandlungen vermitteln.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Suchthilfe-System in Deutschland gut aufgestellt ist, aber mitunter sehr komplex und für Betroffene am Anfang schwierig zu durchschauen.
„Weniger als 10 Prozent der Alkoholabhängigen kommen überhaupt mit dem Suchthilfe-System in Kontakt!“
Ist Abstinenz immer das Ziel?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt! Abstinenz wurde lange Zeit recht dogmatisch als übergeordnetes Ziel gesehen. Zum einen ist da ein methodisches Problem: ab wann ist ein Rückfall ein Rückfall? ist jemand, der das ganze Jahr über abstinent bleibt und nur an Silvester ein Glas Sekt trinkt, abstinent oder nicht? Der Konsum als solcher ist vielleicht auch gar nicht das alleinige Behandlungsziel, auch wenn dadurch das Risiko für Folgeerkrankungen deutlich beeinflusst wird. Lebensqualität und Funktionalität im Alltag sind möglicherweise ebenso sinnvoll. Auch ist es so, dass Abstinenz nicht für alle das Richtige sein muss. Ich bin froh, dass gerade wir als Psychiater und Psychotherapeuten nicht mehr den Standpunkt vertreten, genau zu wissen, was das Beste für die Betroffenen ist, sondern mehr beraten. Das Abstinenz-Dogma kann auch abschreckend wirken. Etwa die Hälfte kann oder will (zunächst) nicht auf Alkohol verzichten. Wem man dann sagt, er soll bis ans Lebensende abstinent bleiben, der kommt vielleicht nie wieder. Und es gibt durchaus Betroffene, die lernen können, einen reduzierten Konsum dauerhaft beizubehalten. Leichter gelingt das mit professioneller Hilfe. Dabei kann auch reduzierter Konsum zur Abstinenz führen, sozusagen als Einstieg zum Ausstieg.
„Reduzierter Konsum kann ein Einstieg zum Ausstieg sein.“
Vorsichtig muss man sein, wenn schwere Entzugssymptome auftreten. Der Entzug sollte dann mit ärztlicher Begleitung erfolgen.
Ist man am Ende geheilt? Wie bleibt man abstinent?
Es gilt, eine erhöhte Wachsamkeit für das eigene Verhalten beizubehalten. Je schwerer der Verlauf ist und je mehr auf dem Spiel steht, desto genauer sollte man sich überlegen, ob man sich dem Risiko eines Rückfalls aussetzt. Die Patienten, die ich kennen gelernt habe, die über Jahre stabil abstinent waren, haben mit der Zeit eine gewisse Routine entwickelt, sich selbst und ihr Verhalten zu hinterfragen, haben Warnsysteme etabliert und beachtet und machen ihre Schritte bewusst. Dazu gehören Fragen wie „Geht es mir gut?“, „Warum denke ich wieder mehr an Alkohol?“. Umgekehrt ist es riskant, impulsive und spontane Entscheidungen zu treffen, die nicht ausreichend durchdacht wurden: „Heute zur Grillfeier, wenn mir ein Bier angeboten wird, sehe ich weiter, wird schon klappen“ – da ist Vorsicht geboten. Wichtig ist auch, bei einem drohenden oder schon manifesten Rückfall rasch Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft ist das Ausmaß der körperlichen, psychischen und sozialen Schäden viel geringer, wenn der Rückfall nur wenige Tage dauert.
Woran forschen Sie aktuell?
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich klinisch und wissenschaftlich mit ADHS bei Abhängigkeitserkrankungen, vorwiegend bei der Alkoholabhängigkeit. Wir konnten so z. B. zeigen, dass 20 Prozent der Alkoholabhängigen seit ihrer Kindheit an einer ADHS leiden – davon hatte praktisch keiner jemals eine ADHS-Diagnose erhalten! Passend dazu wissen wir aus anderen Studien, dass gerade die unbehandelte ADHS schneller zur Abhängigkeit von Alkohol oder anderen Substanzen führt und zu einem schlechteren Verlauf beider Erkrankungen und auch erhöhter Mortalität. Die Betroffenen sind im Schnitt deutlich jünger, sodass hier noch mehr Anstrengungen gefordert sind, um den Betroffenen zu helfen und schlechte Behandlungsergebnisse, negative Langzeitfolgen und Chronifizierungen zu verhindern.
Wir erforschen dazu gerade im Rahmen eines internationalen wissenschaftlichen Netzwerks in einer großen Studie den klinischen Verlauf von Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen und ADHS über mehrere Monate hinweg. Daraus erhoffen wir uns Hinweise darauf, welche Art der Behandlung für welche Patienten geeignet sein könnte. Das ist der Ausgangspunkt für weitere Studien.
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