Anorexie hat innen kein Futter.

Menschen, die an Anorexie leiden, haben eine Essstörung. Aus Angst zu dick zu sein, reduzieren sie die Nahrung immer weiter – mit teils lebensgefährlichen Folgen. Die Erkrankung wird zum Lebensinhalt, während der Magen leer ausgeht. Als Psychiater ist es für dich nicht Jacke wie Hose, wo man hier ansetzt. Du hilfst den Betroffenen, ihre Essstörung nicht weiter zu füttern.

Interview

Die große Geburtstagsfeier, das All-You-Can-Eat-Buffet oder mit Chips und Eis den Herzschmerz lindern: Jeder hat Phasen, in denen das mit der gesunden Ernährung – auch über einen längeren Zeitraum – mal nicht so ganz klappt.

Ab wann wird aus einer schlechten Phase eine Essstörung?
Essstörungen sind weniger durch eine gute oder schlechte Ernährung definiert als vielmehr durch zu viel oder zu wenig Essen. Eine Essstörung beginnt – wie übrigens alle anderen psychischen Erkrankungen auch – immer dann, wenn das Verhalten den Alltag einschränkt; wenn also ein Leidensdruck entsteht und körperliche Auswirkungen auftreten. Das reine „zu-viel-Essen“ und darauffolgend Übergewicht bzw. Adipositas sind übrigens keine psychiatrischen Diagnosen. Dazu werden sie erst, wenn Essanfälle regelmäßig in Verbindung mit Kontrollverlust einhergehen. Wenn Essen eine Funktion bekommt, wie zum Beispiel Emotionskontrolle. Häufig leiden die Betroffenen dann auch an weiteren psychischen Erkrankungen wie Ängsten oder Depressionen. Diese können durch Essstörungen wiederum zusätzlich verstärkt werden.

Die typische Frage: Meine Freundin wird immer dünner. Soll ich das ansprechen? Oder verstärke ich dadurch eher eine mögliche Magersucht?
Wenn man sich Sorgen macht, sollte man das immer ansprechen. Und zwar genau so: „Ich mache mir Sorgen… Mir ist aufgefallen, dass du weniger isst und immer dünner wirst….“ Die Betroffenen berichten oft, dass sie sich gewünscht hätten, dass jemand sie angesprochen hätte. Die Tatsache, dass das niemand getan hat, war für sie eher der Beweis dafür, dass sie so dünn ja nicht sein können. Sie geben aber auch zu, dass sie es am Anfang wahrscheinlich abgestritten hätten oder sogar sauer geworden wären. Man braucht jedoch auf keinen Fall die Sorge zu haben, dass man durch das Ansprechen der Symptomatik eine Essstörung auslöst.

Tritt eine Essstörung immer schon in der Pubertät auf?
Während die Bulimie und die Binge-Eating-Störung meist etwas später in der Entwicklung einsetzen, tritt die Magersucht tatsächlich oft schon in der Pubertät auf. Das Ersterkrankungsalter wird immer jünger. Wir sehen mittlerweile nicht selten neun- bis zehnjährige Mädchen mit einer ausgeprägten Magersucht. In dieser Altersgruppe entwickelt sich der Hungerzustand häufig noch viel schneller und die Behandlung gestaltet sich teilweise sehr schwierig. Aus neurobiologischer Sicht sind die  Auswirkungen des Hungerzustands auf das sich entwickelnde Gehirn besorgniserregend. Wichtig ist daher, so schnell wie möglich zu behandeln und die Betroffenen wieder in einen gesunden Gewichtsbereich zu bringen.

Was bedeutet eine Essstörung für Familien?
Ist ein Kind von einer psychischen Erkrankung betroffen, ist das für Familien immer eine große Belastung. Eltern machen sich viele Sorgen und häufig auch Vorwürfe, vielleicht etwas falsch gemacht oder übersehen zu haben. Teilweise wird dies vom Umfeld noch verstärkt. Gerade bei der Magersucht geht es in der akuten Phase im Zweifel sogar um Leben und Tod. Unsere Aufgabe als Behandelnde ist es dann auch, die Eltern zu stützen und mit Informationen über die Entstehung von Essstörungen zu versorgen. Wir versuchen ihnen deutlich zu machen, dass sie nicht an der Erkrankung ihres Kindes schuld sind, sondern im Gegenteil: eine wichtige Unterstützung in der Behandlung.

Man sagt ja: Sport ist Mord. Wie sieht das bei Menschen mit einer Essstörung aus?
Menschen mit Essstörungen betreiben häufig übermäßig und zwanghaft Sport. Teilweise übertreiben sie es so sehr, dass sie sich damit nachhaltig schaden. Zum Beispiel kann es zu Ermüdungsbrüchen kommen. Die Knochen werden durch das lange Hungern brüchig. Sie halten der Belastung nicht mehr stand. Bei Männern mit Anorexie kommt es häufig vor, dass sie gar nicht so restriktiv, also zu wenige Kalorien essen. Indem sie aber mehrere Stunden pro Tag Ausdauer- und Kraftsport betreiben, reicht die normale Nahrungsmenge nicht aus und es kommt zu einer Gewichtsabnahme.

Essstörungen gehen oft mit einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper einher. Wie unterscheiden sie sich von einer Körperdismorphen Störung (KDS)?
Wenn man so will, sind die Übergänge fließend. In beiden Fällen handelt es sich um eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Für die Diagnose „Essstörung” müssen jedoch noch weitere Kriterien erfüllt sein. Zum Beispiel ein massives Untergewicht oder regelmäßige Essattacken. Die Körperdismorphe Störung betrifft häufig nur ein Körperteil, auf das sich die Betroffenen fokussieren, wie z. B. die Nase. Sie beschäftigen sich stundenlang mit dem vermeintlichen Makel und suchen oft Bestätigung bei anderen.

Wenig zu essen hat etwas mit Kontrolle zu tun, Essattacken vor dem Kühlschrank mit fehlender Kontrolle. Was ist der entscheidende Faktor, in welche Richtung das Pendel ausschlägt?
Hier kommen grundlegende Charaktereigenschaften zum Tragen: Bin ich eher ein perfektionistisch-rigider Mensch – vielleicht auch weniger ein Genussmensch – wird es mir leichter fallen, auf Essen zu verzichten. Bin ich dagegen eher impulsiv, weniger kontrolliert und bedürfnisorientiert, neige ich zu Essattacken.

Ein Problem kommt selten allein. Sind Essstörungen eher Ursache oder Folge von begleitenden (psychischen) Erkrankungen?
Es kann beides sein. Bei der Magersucht weiß man beispielsweise, dass bei vielen Betroffenen bereits im Vorfeld eine Angsterkrankung diagnostiziert wurde. Hier ist es vor allem eine sozial-phobische Symptomatik. Fast alle Betroffenen entwickeln im Laufe des Hungerns eine depressive oder zwanghafte Symptomatik. Teilweise verstärken sich dadurch auch bestehende Zwänge. Von einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung Betroffene haben häufig parallel eine AD(H)S oder eine depressive Symptomatik.

„In jedem Fall ist es wichtig, komorbide Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln. Andernfalls ist die Gefahr des Rückfalls sehr groß bzw. tragen diese Faktoren dazu bei, dass die Essstörung bestehen bleibt.“

Fasten, vegane Ernährung oder Paleo: Ernährungstrends gibt es viele. Kann vermeintlich gesunde Ernährung auch ein Deckmantel für eine Essstörung sein?
Auf jeden Fall. Nach meiner Erfahrung sind sie dann auch sehr schwer zu behandeln. Besonders, wenn die Betroffenen wenig Leidensdruck spüren. In den sozialen Medien werden Ernährungstrends von Promis teilweise als „Lifestyle“ glorifiziert. Dadurch ist es kaum möglich – insbesondere bei jugendlichen Mädchen, die ihren Idolen nacheifern – deutlich zu machen, wo die Problematik liegt und warum z. B. eine vegane Ernährung von Kinderärzten nicht empfohlen wird.

Inwiefern kann eine Essstörung der Eltern Kinder beeinflussen?
Ein erhöhtes Risiko besteht zum einen über die genetische Veranlagung. Zum anderen spielt die Wirkung der elterlichen Essstörung als Umweltfaktor eine Rolle. Bereits als Kleinkinder bekommen wir über das, was in unserer Familie gegessen wird, ein bestimmtes Essverhalten antrainiert. Zum Beispiel damit, wie wir an den Geschmack von Zucker gewöhnt werden. Gibt es in der Kindheit hauptsächlich Fastfood, ist das Risiko groß, sich auch als Erwachsener eher ungesund zu ernähren. Ähnlich läuft es mit einem sehr restriktiven Essverhalten. Töchter essgestörter Mütter haben ein größeres Risiko, eine Essstörung zu entwickeln.

Können Body-Positivity-Initiativen helfen? Wie kann die Gesellschaft hier Verantwortung übernehmen?
Es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn die Medien ein realistisches und gesundes Körperideal vermitteln. Da es sich aber um eine multifaktorielle Erkrankung handelt, wäre es zu einfach, nur darauf zu setzen. Es ist wichtig, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln und sie zu ermutigen, für sich selbst einzustehen.

Wann kommen Erkrankte in der Regel in Behandlung und wie sehen die Therapieansätze aus?
Eine Regel gibt es nicht. Die Heilungschancen sind aber am besten, je früher behandelt wird. Leider dauert es oft jedoch lange, bis die Erkrankung bemerkt, die richtige Diagnose gestellt und eine Behandlung eingeleitet wird. Grundsätzlich kann je nach Krankheitsschwere ambulant oder stationär behandelt werden. In spezialisierten Zentren wird auch eine teilstationäre Behandlung von Essstörungen angeboten. Die Therapie sollte immer multimodal sein. Das heißt, sie sollte aus einer körperlichen Stabilisierung, einer Psychoedukation, einer Ernährungstherapie und Gewichtszunahme, einer störungsspezifischen Psychotherapie, Elternarbeit und einer Behandlung der psychiatrischen Komorbiditäten bestehen. Es können dann auch noch körperorientierte Verfahren oder – je nach Bedarf und Vorliebe der Betroffenen – andere therapeutische Verfahren zur Anwendung kommen.

Was macht das Feld der Essstörungen besonders spannend?
Für mich ist es ganz klar die Kombination aus psychischer und körperlicher Symptomatik. Zum Beispiel bei der Anorexie. Als Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychiatrie sehen wir sie am häufigsten. Ich kann Betroffenen im Akutstadium zum Beispiel anhand von Blut- und EKG-Werten zeigen: „Mit dir stimmt etwas nicht. Egal, wie wir die Erkrankung nennen, egal ob das jetzt psychiatrisch ist oder nicht, du bist sehr krank. Wenn du so weitermachst, stirbst du. Das siehst Du daran, dass Dein Herz schon jetzt sehr viel langsamer schlägt als das von Gesunden.“ Genauso bekommt man die Patienten ins Boot. Stück für Stück beginnt dann auch die Arbeit an den möglicherweise zugrunde liegenden psychischen Problemen oder komorbiden Erkrankungen.

„Es ist häufig ein langer Weg, aber er lohnt sich.“

Viele werden wieder ganz gesund und melden sich noch Jahre später mit einem Statusbericht. Das ist überhaupt das Tolle an unserem Fachgebiet: man hat die Möglichkeit Kindern und Jugendlichen und deren Familien durch eine schwierige Phase ihres Lebens zu begleiten und in vielen Fällen dazu beitragen, dass es ihnen wieder besser geht und sie häufig ein ganz normales und erfülltes Leben führen können.

 

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Lexikon

Zu viel, zu wenig oder in Attacken: Essstörungen gibt es in unterschiedlichen Formen. Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung führen die Liste an. Es gibt aber auch Mischformen und Übergänge von der einen in die andere Störung. Schaut man sich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte an, kann einem ganz anders werden. Deutschlandweit starben 2019 zum Beispiel 65 Menschen aufgrund einer Essstörung. Das waren 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit 100 Todesopfern waren es 2008 so viele wie noch nie, betrachtet man den Zeitraum zwischen 1998 und 2019.

Aber bitte ohne Sahne – Anorexie
Die Magersucht bzw. Anorexie, gehört zu den am weitesten verbreiteten Essstörungen. Die Zahl der stationär behandelten Anorexie-Fälle wächst beharrlich. In den vergangenen zehn Jahren wurde ein Anstieg um knapp 30 Prozent festgestellt. Die Betroffenen nehmen zu wenig Energie und Essen zu sich oder verbrauchen zu viel Energie durch sportliche Betätigung. Sie ernähren sich vermeintlich gesund, haben aber oft nur ein geringes Wissen über eine ausgewogene Ernährung. Sie fokussieren sich vorwiegend auf kalorienarme Nahrungsmittel. Diese Erkrankung ist die Einzige, die man den Betroffenen irgendwann ansieht, da sie sehr dünn sind. Sie leiden unter Haarausfall, bekommen eine trockene Haut und einen leichten Haarflaum am ganzen Körper.

Man unterscheidet zwischen einer restriktiven und einer bulimischen Form. Wird das Essverhalten streng kontrolliert und eingeschränkt, um ein starkes Untergewicht herbeizuführen, spricht man von einer restriktiven Form. Werden dagegen Erbrechen, Abführmittel und exzessiver Sport eingesetzt, ist es eine bulimische Form. Das Körpergewicht der Betroffenen liegt mindestens 15 Prozent unter dem medizinischen Normalgewicht. Trotzdem empfinden sich die Betroffenen immer noch als zu dick. Anorexia nervosa, so der Fachbegriff, ist die tödlichste unter den psychischen Erkrankungen.

Alles muss raus – Bulimia nervosa
Einfach mal nach Lust und Laune alles zu essen, kann glücklich machen. Nicht jedoch, wenn Essen zum Zwang wird.

Bei der Bulimia nervosa wechseln sich Phasen des Hungerns mit Phasen des übermäßigen Essens ab.

Riesige Mengen an Kalorien werden auf einmal verschlungen – teilweise 5000 bis 6000. Anschließend wird die Nahrung aus schlechtem Gewissen und Angst vor der Gewichtszunahme wieder erbrochen. Teilweise werden auch Abführmittel, Appetitzügler oder andere entschlackende Mittel eingesetzt. Diesen Betroffenen sieht man die Erkrankung als Laie häufig nicht an. Sie tun ja auch viel dafür, nicht entdeckt zu werden. Das Verheimlichen der Erkrankung kann sehr anstrengend werden. Die Betroffenen ziehen sich häufig sehr stark sozial zurück und verbringen viel Zeit mit der Vorbereitung und Durchführung ihrer Essattacken. Anzeichen können stark geschwollene Wangen aufgrund der vergrößerten Speicheldrüsen, Zahnschäden sowie beim Erzeugen des Brechreizes vom Gebiss beschädigte Handknöchel sein.

Das Buffet ist eröffnet – Binge-Eating-Störung
Pizza, Burger, Schokolade: Wer an einer Binge-Eating-Störung leidet, nimmt immer wieder große Mengen an Nahrungsmitteln zu sich, ohne gegenzusteuern, also gegenregulatorische Maßnahmen zu ergreifen. Gegessen wird aus Frust, Kummer oder Stress bis es unangenehm wird. Dabei entsteht das Gefühl von Kontrollverlust und des nicht aufhören Könnens. Sie nehmen dadurch immer mehr an Gewicht zu. In der Folge leiden sie dann häufig unter den psychischen, aber auch körperlichen Folgen des Übergewichts. Man geht bei dieser Erkrankung von einer genetischen Ursache aus. Viele waren schon als Kind übergewichtig.

An apple a day keeps the doctor away? – Orthorexie
Wird eine gesunde Ernährung regelrecht erzwungen, spricht man von einer Orthorexie. Offiziell zählt diese übrigens nicht zu den Essstörungen und das Krankheitsbild ist noch relativ jung. Die Betroffenen definieren dabei selbst, was gesund ist und was nicht. Nicht selten wird die Definition im Laufe der Zeit immer strenger gefasst und die Liste der erlaubten Lebensmittel wird immer kleiner. Es folgen eine Unterversorgung mit lebensnotwendigen Nährstoffen bzw. eine Mangelernährung. Geschätzt wird, dass ca. 2–3 Prozent der deutschen Bevölkerung unter einem orthorektischen Essverhalten leiden. Betroffen sind in der Regel besonders jüngere und sportlich aktive Frauen. Aktuell gibt es noch keine Leitlinien oder Behandlungspläne für eine Orthorexie.

Liegt die Ursache in der Muttermilch?
Die Frage nach dem Warum ist bei psychischen Störungen oft nicht so leicht zu beantworten. Überraschung: Essstörungen können viele Ursachen haben. Grundsätzlich geht man bei allen Formen von einer multifaktoriellen Genese aus, d.h. es gibt nicht den einen Grund, warum jemand eine Essstörung entwickelt, sondern es kommen viele Faktoren zusammen. Dabei spielt auch die Genetik eine Rolle. Hat die Mutter in der Jugend beispielsweise an einer Magersucht gelitten, ist das Risiko deutlich erhöht, selbst auch eine zu entwickeln. Auch bestimmte Charaktereigenschaften begünstigen die Entstehung von Essstörungen, darunter ein niedriges Selbstbewusstsein, eher rigide Denkmuster oder ein hoher Perfektionismus. Betroffene mit Bulimie neigen zu impulsivem Verhalten und haben häufig ein komorbides ADHS. Auch soziokulturelle und familiäre Faktoren, wie ungesunde Schönheitsideale und Ernährungsgewohnheiten in der Familie haben einen Einfluss. Hinzu kommen biologische Faktoren. Manche Menschen reagieren empfindlicher auf Nahrungsrestriktion und kommen sehr schnell in einen Hungerzustand, aus dem sie nur schwer aus eigener Kraft wieder herauskommen. Es passieren viele neurobiologische Veränderungen im Körper, die es den Betroffenen erschweren, eigenständig die Nahrungsmenge zu erhöhen und den hungerbedingten Bewegungsdrang zu kontrollieren. Auch wenn es manchmal also bedeuten kann, zum Sherlock Holmes werden zu müssen: für eine erfolgreiche Behandlung ist es wichtig, die Ursachen zu identifizieren.

Verschiedene Studien und Befragungen haben übrigens gezeigt, dass auf bestimmte Schönheitsideale fokussierte Formate in den Medien durchaus einen großen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Essstörungen haben. Soziale Medien spielen hier eine immer größere Rolle. Vermeintlich perfekte Selfies können eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erzeugen und ein gestörtes Essverhalten begünstigen. Gerade junge Mädchen lassen sich hiervon stark beeinflussen. Bei ihnen hat der Konsum während der Pandemie deutlich zugenommen.

Mehr als FDH machen
Zwar gibt es viele Anzeichen und Symptome, der Übergang von einem auffälligen zu einem krankhaften Essverhalten geschieht jedoch meist schleichend. Aufmerksam werden sollte man bei einer allgemeinen Gereiztheit, sozialem Rückzug, auffälligen Gewichtsveränderungen oder exzessivem Sport. Auch die ständige Selbstinszenierung durch Selfies auf sozialen Plattformen kann ein Warnsignal sein. Beobachtet man unkontrollierte Essattacken, Dauerdiäten, ständiges Kalorienzählen oder eine eingeschränkte Nahrungsauswahl, sollten die Alarmglocken läuten. Auch der Missbrauch von Appetitzüglern und Abführmitteln, eine verzerrte Körperwahrnehmung, die zwanghafte Tagesplanung und tägliche Gewichtskontrolle, können Anzeichen für eine Essstörung sein.

Da muss Schutzfolie drauf
Meistens sind es junge Menschen, die an Essstörungen erkranken. Sie gilt es also besonders zu schützen. Das Vorurteil einer „typische Mädchen- bzw. Frauenkrankheit“ ist übrigens falsch.

Schätzungsweise betreffen 25 bis 30 Prozent der Essstörungsdiagnosen Männer.

Die Dunkelziffer ist hoch und der Männeranteil ist je nach Störung sehr unterschiedlich. Bei kaum einer anderen Erkrankung ist dabei der Geschlechterunterschied so groß wie bei Essstörungen. Männer rücken also zunehmend ins Blickfeld von Forschung, wissenschaftlicher Literatur und Medien. Trotzdem ist das Wissen rund um Epidemiologie, Ausprägung und Verlauf der Erkrankungen bei männlichen Patienten bislang noch gering. Auch viele Betroffene verleugnen die Erkrankung oder versuchen, aus Scham an einer „typischen Frauenerkrankung“ zu leiden, selbst damit klarzukommen. Für männliche Betroffene ist es oft sogar besonders schwer, Zugang zu Beratung und Behandlung zu erhalten. Dadurch erhöht sich die Gefahr der Chronifizierung. Umso wichtiger ist es, Fachpersonen aus psychosozialen, psychotherapeutischen und medizinischen wie pädagogischen Berufsfeldern für Essstörungen bei Jungen und Männern zu sensibilisieren. Prinzipiell gilt also: Essstörungen können jeden treffen – unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Umfeld und Milieu.

Kleiner Exkurs zu Corona…Hier geht’s nicht um die Biermarke
Seit dem Ausbruch von Corona sind die Zahlen der diagnostizierten Essstörungen übrigens deutlich angestiegen. Vor allem bei den Jungen. Besonders hoch war bei Kindern und Jugendlichen die Zunahme der Adipositas Diagnosen, einer häufigen Folge psychischer Erkrankungen. Verzeichnet wurde ein Anstieg um 60 Prozent. Bei Untergewicht waren es nach dem ersten Lockdown immerhin 35 Prozent. Betroffene beschreiben, dass sie während des Lockdowns die Möglichkeit hatten, ihren Tag frei einzuteilen, sich viel mit Essen bzw. Nichtessen beschäftigen und ein regelmäßiges Sportprogramm einhalten konnten. Aufgrund der vielen freien Zeit hat sich bei einigen die gedankliche Beschäftigung mit Aussehen, Nahrung und Sport dann verselbstständigt. Einschränkungen im Privatleben sowie emotionaler und psychischer Stress lassen schnell in alte Muster zurückfallen. Die Pandemie hat Essstörungen also einen Push gegeben. Menschen, die schon eine Essstörung haben oder in der Vergangenheit daran litten, sind in der Pandemie besonders gefährdet. Es gilt also, für Betroffene Interventions- und Versorgungsstrategien zu entwickeln, um ihnen zu helfen.

Je später, desto schwerer
Die Frage aller Fragen ist wie immer: kann man das heilen? Die gute Nachricht: ja.

Gerade Jugendliche, die von einer Magersucht betroffen sind, haben eine sehr gute Heilungschance von 80 Prozent.

Der Weg ist jedoch oft mühsam und steinig. Es ist ein Rennen mit der Zeit. Je früher die Behandlung begonnen wird, desto größer sind die Heilungschancen, denn oft werden die Erkrankungen chronisch. Langzeitstudien zeigen aber auch, dass Symptome wie ständige Essensgedanken, Figur- und Gewichtssorgen, Essanfälle oder Erbrechen im Laufe der Jahre mit einer entsprechenden Therapie eine kontinuierliche Besserung erfahren.

Ohne eine professionelle Behandlung ist eine Genesung unwahrscheinlich. Dies gilt auch für Mischformen. Bleiben sie unbehandelt können Hormonstörungen, Libidoverlust, Vitamin- und Mineralstoffmangel, ständiges Frieren, oder sogar Unfruchtbarkeit und Osteoporose die Folge sein. Bei ständigem Erbrechen außerdem Verletzungen und Entzündungen des Rachenraumes und der Speiseröhre, Zahnschäden oder eine Schädigungen des Magen-Darm-Traktes. Im schlimmsten Fall droht sogar der Tod.

 

Du möchtest noch mehr über das Krankheitsbild erfahren? Weitere Informationen findest du auch hier:

Interview

Aron ist kein Problemkind. Ganz im Gegenteil. Er hat viele Freunde, ist intelligent, in behüteten Verhältnissen aufgewachsen und als Autor, Moderator und Slam-Poet schon sehr jung erfolgreich. Außerdem ist er hochgradig essgestört. Seine Krankheit entwickelt sich schließlich so extrem, dass er einen BMI unter 17 und Schäden an seinem Herzen hat. In „Luft nach unten“ schildert er gleichzeitig selbstironisch und dramatisch den Alltag und Wahnsinn eines Magersüchtigen – und zwar so fesselnd, dass man nicht aufhören kann zu lesen.

Wie geht es dir im Moment?
Gut. Ich muss natürlich aufpassen, damit das auch so bleibt.

Eigentlich wollte ich nach deinem niedrigsten Gewicht fragen, aber dann habe ich gelesen, dass du das nicht gut findest. Warum?
Weil ich es sinnlos finde über konkrete Zahlen zu sprechen. Bei einer Essstörung geht es darum, dass die Menschen auf dysfunktionale Art und Weise versuchen, ihre Emotionen zu regulieren. Allein über das Gewicht lässt sich nicht festmachen, ob und wie krank jemand ist. Wichtiger ist, was im Kopf vorgeht. Das wird oft nicht erkannt. Grundsätzlich finde ich Berichterstattung natürlich gut, weil auf das Problem aufmerksam gemacht wird, aber es darf nicht allein darum gehen, Sensationslust zu befriedigen. Dazu kommt, dass es gefährlich sein kann, allein durch Gewichtszahlen zu schockieren. Essgestörte könnten sich durch solche Angaben getriggert fühlen und denken, dass bei ihnen alles noch gar nicht so schlimm ist.

Warum glaubst du, bist du magersüchtig geworden?
Am Anfang ging es einfach darum besser auszusehen. Dabei war ich dünn, ich war nie übergewichtig. Warum das so war, weiß ich selbst nicht so genau. Dann wurde es schnell sehr fanatisch, ich habe alles Mögliche versucht: Erst extrem viel Sport, dann der Verzicht aufs Essen. Ich wollte ausprobieren, wie weit ich gehen kann. Was erst ein Spiel war, ist irgendwann abgerutscht in etwas Krankhaftes.

Was war die Initialzündung?
Es gab Momente, in denen man einen Spruch bekommen hat. Es ging oft um meine runde Gesichtsform. Zumindest bildete ich mir ein, eine zu besitzen. Aus dieser Einbildung wurden Hamsterbacken. Ich habe mich selbst angeschaut, mich verglichen und beschlossen, dass ich auf jeden Fall noch dünner werden kann. Plötzlich gab es kein Zurück mehr aus diesem zwanghaften Denken.

„Ich schaue jeden Morgen in den Spiegel. Nicht kurz, ich drehe mich dreimal. Erst nur den Kopf, dann den Körper. Ziehe kurz mein T-Shirt hoch, dreimal, vorsichtig. Das Bad hat ein Fenster, man kann hereinsehen. Dabei möchte ich nicht gestört werden. Ich achte darauf, dass keine Haut über meinen Gürtel schaut. Schaffe ich das nach dreimaliger Kontrolle, kann der Tag beginnen. Dann wird es ein guter Tag.“

Es ging aber nicht nur um dein Aussehen…
Es ging um die Kontrolle, darum, dass ich es schaffen kann. Man kann das irgendwann gar nicht mehr richtig steuern. Die Vergiftung meiner Psyche hat sich so verselbständigt, dass es eine übermächtige Kontrollsucht wurde. Es war wie ein Rausch. Wie die Sucht bei einem Drogenabhängigen, der immer weiter die Dosis erhöhen muss.

Wie sah dein Alltag aus?
Sehr uninteressant. Ich bin aufgestanden und habe nur das Nötigste getan, damit ich nicht zu viel Energie verschwende und kein Hungergefühl bekomme. Ich habe ausprobiert, wie es funktioniert, mit möglichst wenig Ressourcen auszukommen. Das habe ich jeden Tag wiederholt. Mein Ziel war es, nichts zu essen. Das hat mir Sicherheit gegeben. Meine Gedanken kreisten nur darum, wie ich möglichst wenig essen und dabei überleben kann. Zu mehr war ich auch nicht fähig, weil ich kognitiv nicht ganz da war. Es knockt einen ja völlig aus, wenn man nichts isst.

„Ich hätte bereits Schäden im Gehirn, die Arbeit meiner Nieren hätte sich verschlechtert, dazu die Herzrhythmusstörung…Ach ja und überhaupt: Wenn ich so weitermache, würde ich bald sterben. Ich solle an meine Organe denken. Für ein paar Sekunden, Stunden vielleicht, damals umgeben von der Krankenhausatmosphäre und Eindrücken der Vergänglichkeit gedachte ich ihrer. Der Organe. Auch sorgte ich mich um meine Gesundheit, damals, komplett verkabelt und die unregelmäßige Kurve meines Herzschlags auf einem Monitor im Untersuchungsraum beobachtend. Ich fürchtete mich.“

Dir ging es so schlecht, dass du schließlich im Krankenhaus gelandet bist, mit bereits schlimmen Schäden.
Man darf das nie vergessen: Anorexia nervosa ist eine tödliche Krankheit. Durch Mangelernährung kann das Gehirn und das Herz angegriffen werden. In dem Moment, als ich ins Krankenhaus kam, ist für mich alles zusammengebrochen. Ich habe gesehen, dass dieses zwanghafte Kontrollsystem so nicht funktionieren kann. Ich war total erschüttert. Aber es war auch eine Erleichterung. Der gesunde Teil in mir, der ja immer noch da war, hat endlich wieder einen Überlebensinstinkt gezeigt.

Wieso hat so lange keiner etwas gemerkt?
Meine Freunde und meine Familie haben schon etwas gemerkt, sie haben auch am Schluss eingegriffen – und so mein Leben gerettet. Es war irgendwann nicht mehr zu übersehen. Ich habe mich völlig isoliert, ich habe anders geredet, ich bin regelmäßig zu Essenssituationen zu spät gekommen und habe immer behauptet, ich hätte schon gegessen. Ich hatte ganz viele Vermeidungsstrategien. Ich bin zum Beispiel nicht nur zu spät gekommen, sondern auch früher gegangen. Ich hatte gar nicht die ausreichende Energie, um länger etwas zu unternehmen. Ich habe ständig gelogen. Ich habe immer nur überlegt, wie ich mit meiner Sucht durchkomme, habe mich betont aufgedreht und überschwänglich gegeben, auch wenn ich gar keine Kraft hatte. Wie bei jeder Sucht ist der Anorektiker extrem darauf bedacht, den Schein nach außen zu wahren.

Laut Statistik ist nur einer von zehn Magersüchtigen männlich. Glaubst du, dass du den Schein deswegen länger wahren konntest?
Ich glaube schon, aber ich habe meine Krankheit auch immer versteckt. Bei meinen öffentlichen Auftritten habe ich oft zwei oder drei Pullover getragen, damit keiner sieht, wie dünn meine Arme und mein Oberkörper sind – und auch weil mir ständig kalt war. Ich glaube, allgemein werden Essstörungen eher mit Frauen assoziiert, die sind grundsätzlich schneller im Verdacht. Wenn ein Mädchen solche Fragen gestellt hätte wie ich, wären Außenstehende wahrscheinlich sofort hellhörig geworden.

Was hast du gesehen, wenn du in den Spiegel geguckt hast?
Auch das habe ich vermieden. Es war mir ja unangenehm, mich zu sehen. Ich bin mit meinem Körper immer unzufrieden gewesen, egal, wie viel ich wog. Meine Essgestörtenstimme war immer da. Wenn die dem Esssgestörten sagen würde, dass er zufrieden ist, wäre das ja in dem Moment falsch. Dann würde er nicht mehr abnehmen. Es wurde mir von ihr also immer gesagt, dass es noch nicht genug ist.

„Dann schaut sie auf meine Arme, dort bleibt sie hängen. Meine Arme. Vorhin bei der Untersuchung haben sie und eine Schwester ein Belastungs-EKG mit mir gemacht. Ich musste auf einer Art Fahrrad so lange fahren, bis ich nicht mehr konnte. Die Schwester sagte mir in einem strengen Ton, dass das etwas länger dauern würde. Sie müssten eine Kinderarmbinde finden, die normale würde nicht um meinen Arm passen.“

Wie laut ist deine Essgestörtenstimme gerade?
Ich habe sie gut im Griff. Sie wird vermutlich immer in mir drin sein, wie ein Keim, den man nicht ganz abtöten kann. Ich muss einfach aufpassen, dass die Krankheit nicht wieder ausbricht, dass sie nicht wieder lauter wird.

Wie sieht dein Alltag im Moment aus?
Ich lebe. Das ist schon mal sehr schön. Ich bin gesund, mein Herz ist mittlerweile wieder in Ordnung, ich bin normalgewichtig. Ansonsten tue ich das, was ich sehr gerne tue: Ich schreibe, trete auf und bin dankbar, dass ich wieder so viel Energie habe und am Leben um mich herum teilhaben kann. Spontan essen klappt noch nicht immer, aber es macht wieder Spaß. Ich muss nur trotzdem aufpassen, dass ich es mache.

Glaubst du, dass du die Magersucht irgendwann ganz los sein wirst?
Es wäre furchtbar, wenn ich akzeptieren würde, dass das für immer so bleibt. Es ist ein Kampf, den ich geführt habe und führe, aber im Moment geht es mir gut. Sie ist auf jeden Fall ein Teil von mir, auch wenn ich nicht will, dass sie wiederkommt. Sie ist noch da, ein bisschen wie eine Ex-Freundin, die sich weigert, die Nachbarschaft zu verlassen.

Würdest du bei einem Date direkt erzählen, dass du magersüchtig warst?
Ich erzähle das jetzt nicht bei jeder Gelegenheit, aber ich mache auch kein Geheimnis daraus. Es ist eine Krankheit und kein Laster.

Wie können Menschen im Umfeld helfen?
Sie können dadurch helfen, dass sie einfach da sind. Unterstützend und gleichzeitig streng. Wichtig ist, dass man genau hinschaut, aufmerksam ist und nicht alles so hinnimmt, was die essgestörte Person erzählt. Außerdem sind eine Therapie und professionelle Beratung wichtig, weil man ohne sie in der Regel nicht aus dieser Krankheit rauskommt.

Du willst wissen, wie eine Essstörung behandelt wird? Hier geht es zum Experteninterview. Noch mehr Fakten findest du im Lexikoneintrag.

 

  • Der Original-Artikel ist unter dem Titel „Wie ein Drogenabhängiger, der die Dosis erhöhen muss“ am 21.09.2021 auf www.brigitte.de erschienen.
  • Arons Buch „Luft nach unten. Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte“ wurde vom Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag veröffentlicht.