Interview
Die große Geburtstagsfeier, das All-You-Can-Eat-Buffet oder mit Chips und Eis den Herzschmerz lindern: Jeder hat Phasen, in denen das mit der gesunden Ernährung – auch über einen längeren Zeitraum – mal nicht so ganz klappt.
Ab wann wird aus einer schlechten Phase eine Essstörung?
Essstörungen sind weniger durch eine gute oder schlechte Ernährung definiert als vielmehr durch zu viel oder zu wenig Essen. Eine Essstörung beginnt – wie übrigens alle anderen psychischen Erkrankungen auch – immer dann, wenn das Verhalten den Alltag einschränkt; wenn also ein Leidensdruck entsteht und körperliche Auswirkungen auftreten. Das reine „zu-viel-Essen“ und darauffolgend Übergewicht bzw. Adipositas sind übrigens keine psychiatrischen Diagnosen. Dazu werden sie erst, wenn Essanfälle regelmäßig in Verbindung mit Kontrollverlust einhergehen. Wenn Essen eine Funktion bekommt, wie zum Beispiel Emotionskontrolle. Häufig leiden die Betroffenen dann auch an weiteren psychischen Erkrankungen wie Ängsten oder Depressionen. Diese können durch Essstörungen wiederum zusätzlich verstärkt werden.
Die typische Frage: Meine Freundin wird immer dünner. Soll ich das ansprechen? Oder verstärke ich dadurch eher eine mögliche Magersucht?
Wenn man sich Sorgen macht, sollte man das immer ansprechen. Und zwar genau so: „Ich mache mir Sorgen… Mir ist aufgefallen, dass du weniger isst und immer dünner wirst….“ Die Betroffenen berichten oft, dass sie sich gewünscht hätten, dass jemand sie angesprochen hätte. Die Tatsache, dass das niemand getan hat, war für sie eher der Beweis dafür, dass sie so dünn ja nicht sein können. Sie geben aber auch zu, dass sie es am Anfang wahrscheinlich abgestritten hätten oder sogar sauer geworden wären. Man braucht jedoch auf keinen Fall die Sorge zu haben, dass man durch das Ansprechen der Symptomatik eine Essstörung auslöst.
Tritt eine Essstörung immer schon in der Pubertät auf?
Während die Bulimie und die Binge-Eating-Störung meist etwas später in der Entwicklung einsetzen, tritt die Magersucht tatsächlich oft schon in der Pubertät auf. Das Ersterkrankungsalter wird immer jünger. Wir sehen mittlerweile nicht selten neun- bis zehnjährige Mädchen mit einer ausgeprägten Magersucht. In dieser Altersgruppe entwickelt sich der Hungerzustand häufig noch viel schneller und die Behandlung gestaltet sich teilweise sehr schwierig. Aus neurobiologischer Sicht sind die Auswirkungen des Hungerzustands auf das sich entwickelnde Gehirn besorgniserregend. Wichtig ist daher, so schnell wie möglich zu behandeln und die Betroffenen wieder in einen gesunden Gewichtsbereich zu bringen.
Was bedeutet eine Essstörung für Familien?
Ist ein Kind von einer psychischen Erkrankung betroffen, ist das für Familien immer eine große Belastung. Eltern machen sich viele Sorgen und häufig auch Vorwürfe, vielleicht etwas falsch gemacht oder übersehen zu haben. Teilweise wird dies vom Umfeld noch verstärkt. Gerade bei der Magersucht geht es in der akuten Phase im Zweifel sogar um Leben und Tod. Unsere Aufgabe als Behandelnde ist es dann auch, die Eltern zu stützen und mit Informationen über die Entstehung von Essstörungen zu versorgen. Wir versuchen ihnen deutlich zu machen, dass sie nicht an der Erkrankung ihres Kindes schuld sind, sondern im Gegenteil: eine wichtige Unterstützung in der Behandlung.
Man sagt ja: Sport ist Mord. Wie sieht das bei Menschen mit einer Essstörung aus?
Menschen mit Essstörungen betreiben häufig übermäßig und zwanghaft Sport. Teilweise übertreiben sie es so sehr, dass sie sich damit nachhaltig schaden. Zum Beispiel kann es zu Ermüdungsbrüchen kommen. Die Knochen werden durch das lange Hungern brüchig. Sie halten der Belastung nicht mehr stand. Bei Männern mit Anorexie kommt es häufig vor, dass sie gar nicht so restriktiv, also zu wenige Kalorien essen. Indem sie aber mehrere Stunden pro Tag Ausdauer- und Kraftsport betreiben, reicht die normale Nahrungsmenge nicht aus und es kommt zu einer Gewichtsabnahme.
Essstörungen gehen oft mit einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper einher. Wie unterscheiden sie sich von einer Körperdismorphen Störung (KDS)?
Wenn man so will, sind die Übergänge fließend. In beiden Fällen handelt es sich um eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Für die Diagnose „Essstörung” müssen jedoch noch weitere Kriterien erfüllt sein. Zum Beispiel ein massives Untergewicht oder regelmäßige Essattacken. Die Körperdismorphe Störung betrifft häufig nur ein Körperteil, auf das sich die Betroffenen fokussieren, wie z. B. die Nase. Sie beschäftigen sich stundenlang mit dem vermeintlichen Makel und suchen oft Bestätigung bei anderen.
Wenig zu essen hat etwas mit Kontrolle zu tun, Essattacken vor dem Kühlschrank mit fehlender Kontrolle. Was ist der entscheidende Faktor, in welche Richtung das Pendel ausschlägt?
Hier kommen grundlegende Charaktereigenschaften zum Tragen: Bin ich eher ein perfektionistisch-rigider Mensch – vielleicht auch weniger ein Genussmensch – wird es mir leichter fallen, auf Essen zu verzichten. Bin ich dagegen eher impulsiv, weniger kontrolliert und bedürfnisorientiert, neige ich zu Essattacken.
Ein Problem kommt selten allein. Sind Essstörungen eher Ursache oder Folge von begleitenden (psychischen) Erkrankungen?
Es kann beides sein. Bei der Magersucht weiß man beispielsweise, dass bei vielen Betroffenen bereits im Vorfeld eine Angsterkrankung diagnostiziert wurde. Hier ist es vor allem eine sozial-phobische Symptomatik. Fast alle Betroffenen entwickeln im Laufe des Hungerns eine depressive oder zwanghafte Symptomatik. Teilweise verstärken sich dadurch auch bestehende Zwänge. Von einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung Betroffene haben häufig parallel eine AD(H)S oder eine depressive Symptomatik.
„In jedem Fall ist es wichtig, komorbide Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln. Andernfalls ist die Gefahr des Rückfalls sehr groß bzw. tragen diese Faktoren dazu bei, dass die Essstörung bestehen bleibt.“
Fasten, vegane Ernährung oder Paleo: Ernährungstrends gibt es viele. Kann vermeintlich gesunde Ernährung auch ein Deckmantel für eine Essstörung sein?
Auf jeden Fall. Nach meiner Erfahrung sind sie dann auch sehr schwer zu behandeln. Besonders, wenn die Betroffenen wenig Leidensdruck spüren. In den sozialen Medien werden Ernährungstrends von Promis teilweise als „Lifestyle“ glorifiziert. Dadurch ist es kaum möglich – insbesondere bei jugendlichen Mädchen, die ihren Idolen nacheifern – deutlich zu machen, wo die Problematik liegt und warum z. B. eine vegane Ernährung von Kinderärzten nicht empfohlen wird.
Inwiefern kann eine Essstörung der Eltern Kinder beeinflussen?
Ein erhöhtes Risiko besteht zum einen über die genetische Veranlagung. Zum anderen spielt die Wirkung der elterlichen Essstörung als Umweltfaktor eine Rolle. Bereits als Kleinkinder bekommen wir über das, was in unserer Familie gegessen wird, ein bestimmtes Essverhalten antrainiert. Zum Beispiel damit, wie wir an den Geschmack von Zucker gewöhnt werden. Gibt es in der Kindheit hauptsächlich Fastfood, ist das Risiko groß, sich auch als Erwachsener eher ungesund zu ernähren. Ähnlich läuft es mit einem sehr restriktiven Essverhalten. Töchter essgestörter Mütter haben ein größeres Risiko, eine Essstörung zu entwickeln.
Können Body-Positivity-Initiativen helfen? Wie kann die Gesellschaft hier Verantwortung übernehmen?
Es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn die Medien ein realistisches und gesundes Körperideal vermitteln. Da es sich aber um eine multifaktorielle Erkrankung handelt, wäre es zu einfach, nur darauf zu setzen. Es ist wichtig, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln und sie zu ermutigen, für sich selbst einzustehen.
Wann kommen Erkrankte in der Regel in Behandlung und wie sehen die Therapieansätze aus?
Eine Regel gibt es nicht. Die Heilungschancen sind aber am besten, je früher behandelt wird. Leider dauert es oft jedoch lange, bis die Erkrankung bemerkt, die richtige Diagnose gestellt und eine Behandlung eingeleitet wird. Grundsätzlich kann je nach Krankheitsschwere ambulant oder stationär behandelt werden. In spezialisierten Zentren wird auch eine teilstationäre Behandlung von Essstörungen angeboten. Die Therapie sollte immer multimodal sein. Das heißt, sie sollte aus einer körperlichen Stabilisierung, einer Psychoedukation, einer Ernährungstherapie und Gewichtszunahme, einer störungsspezifischen Psychotherapie, Elternarbeit und einer Behandlung der psychiatrischen Komorbiditäten bestehen. Es können dann auch noch körperorientierte Verfahren oder – je nach Bedarf und Vorliebe der Betroffenen – andere therapeutische Verfahren zur Anwendung kommen.
Was macht das Feld der Essstörungen besonders spannend?
Für mich ist es ganz klar die Kombination aus psychischer und körperlicher Symptomatik. Zum Beispiel bei der Anorexie. Als Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychiatrie sehen wir sie am häufigsten. Ich kann Betroffenen im Akutstadium zum Beispiel anhand von Blut- und EKG-Werten zeigen: „Mit dir stimmt etwas nicht. Egal, wie wir die Erkrankung nennen, egal ob das jetzt psychiatrisch ist oder nicht, du bist sehr krank. Wenn du so weitermachst, stirbst du. Das siehst Du daran, dass Dein Herz schon jetzt sehr viel langsamer schlägt als das von Gesunden.“ Genauso bekommt man die Patienten ins Boot. Stück für Stück beginnt dann auch die Arbeit an den möglicherweise zugrunde liegenden psychischen Problemen oder komorbiden Erkrankungen.
„Es ist häufig ein langer Weg, aber er lohnt sich.“
Viele werden wieder ganz gesund und melden sich noch Jahre später mit einem Statusbericht. Das ist überhaupt das Tolle an unserem Fachgebiet: man hat die Möglichkeit Kindern und Jugendlichen und deren Familien durch eine schwierige Phase ihres Lebens zu begleiten und in vielen Fällen dazu beitragen, dass es ihnen wieder besser geht und sie häufig ein ganz normales und erfülltes Leben führen können.
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