Plaques haben nichts mit Karies zu tun.

Sie sind nicht im Mund zu finden, sondern im Gehirn. Plaques sind kleine, tückische Klumpen aus Eiweißprotein, die sich an den Synapsen ablagern. Die Folge: Nach und nach verkümmern die Nervenzellen bis sie schließlich absterben. Plaques sind charakteristisch für Alzheimer – die häufigste Form von Demenz. Merke: Nicht jede Demenz ist gleich Alzheimer! Als Psychiater fühlst du den Ursachen von demenziellen Erkrankungen auf den Zahn.

Interview

Betreffen demenzielle Erkrankungen nur alte Menschen?
Was „alt“ bedeutet, ist ja immer Definitionssache. In Bezug auf die Alzheimer-Erkrankung unterscheidet man zwischen einer Erkrankung mit frühem Beginn (unter 65) und mit spätem Beginn (über 65). Der jüngste Patient, der mir bekannt ist, war erst Anfang 30, als die ersten Symptome auftraten. Grundsätzlich sind also nicht nur Menschen im Rentenalter betroffen, auch wenn der letztgenannte Fall zu den seltenen gehört.

Die kognitiven Leistungen lassen von Natur aus im Alter nach. Ab wann ist es etwas Ernstes?
Spätestens dann, wenn Schwierigkeiten bei der Orientierung oder bei alltäglichen Routineaufgaben auftauchen, sollte man aufmerksam werden. Das kann zum Beispiel im Haushalt sein oder auch bei „Papierkram“ wie Bankgeschäften – sofern man diese Dinge vorher eigenständig erledigt hat. Außerdem sollte man es ernst nehmen, wenn nahestehende Menschen einen ansprechen, weil sie Veränderungen im gewohnten Verhalten bemerken.

Wie wird die Diagnose gestellt?
Am Anfang steht erst einmal die Anamnese. Da sind einige Fragen zu klären: In welchen Bereichen gibt es Defizite? Welche Begleiterkrankungen gibt es? Werden Medikamente eingenommen, die möglicherweise Gedächtnisprobleme verursachen können? Liegt eventuell auch eine Depression vor? Es folgt dann die körperliche und neurologische Untersuchung, um weitere Diagnosen auszuschließen oder zu bestätigen. Ebenso ist eine ausführliche Labordiagnostik angezeigt. Ein Kurztest hilft dabei, die kognitiven Fähigkeiten einschätzen zu können. Je nach Befund folgt dann eine neuropsychologische Testung. Zum Basisrepertoire gehört außerdem eine Bildgebung des Gehirns – idealerweise eine Schädel-MRT. Wenn klinisch eine Demenz vorliegt, die bis dahin erfolgte Differenzialdiagnostik aber keine sichere ätiologische Zuordnung ermöglicht hat, sind die Liquordiagnostik oder die Positronen-Emissions-Tomografie weitere Methoden, um der Ursache der Demenz auf die Spur zu kommen.

Was ist das Tückische an diesen Erkrankungen?
Das Tückische ist, dass insbesondere die Alzheimer-Erkrankung in der Regel schleichend beginnt und Patienten oft erst spät und/oder nur auf Drängen der Angehörigen zum Arzt kommen. Auch das Auftreten neuropsychiatrischer Symptome wie Ängste, Agitiertheit oder auch aggressive Tendenzen, die im Verlauf der Krankheit auftreten können, belasten Patienten und Angehörige in der Regel erheblich. Viele haben Angst vor der endgültigen Diagnose und denken, man könne ja ohnehin nichts dagegen tun.

Sterben Demenzkranke früher?
Wir wissen, dass sich im fortgeschrittenen Stadium das Risiko für Infektionserkrankungen erhöht. Zum einen verlieren die Patienten im Krankheitsverlauf an Immunkompetenz, zum anderen bestehen gerade im höheren Lebensalter weitere Begleiterkrankungen wie eben Bluthochdruck oder Diabetes, die das Mortalitätsrisiko an sich schon erhöhen. Hieraus resultiert letztlich, dass Patienten mit einer schweren Demenz früher versterben.

Kann man vorbeugen? Helfen Kreuzworträtsel?
Generell gilt: alles, was das Gefäßsystem gesund hält, schützt auch das Gehirn. Das heißt, wer etwas gegen seinen Bluthochdruck tut, seinen Diabetes im Griff hat – oder noch besser: beides gar nicht erst entstehen lässt –, nicht raucht, sich gesund ernährt und sich regelmäßig bewegt sorgt schon vor. Es gibt aber ebenso Hinweise dafür, dass soziale Kontakte bzw. die Interaktion mit anderen ein wichtiger Schutzfaktor ist.

„Kreuzworträtsel schaden nicht, sie haben aber den Nachteil, dass hierbei lediglich „altes“ Wissen abgefragt wird.“

Eine neue Lernerfahrung entsteht beim Rätseln also nicht. Genau das scheint aber wichtig zu sein. Also empfiehlt es sich, bis ins höhere Alter neugierig zu bleiben und etwas Neues zu lernen, damit es keinen Stillstand im Kopf gibt. Eben weil noch keine Heilung möglich ist, kommt der Prävention eine umso größere Rolle zu! Meines Erachtens ist es wichtig, das Bewusstsein genau hierfür zu schulen.

Apropos kein Stillstand: Wie muss man sich die Arbeit im Bereich klinische Demenzforschung vorstellen?
Seinem Spezialbereich entsprechend würde sicher jeder aus unserer Arbeitsgruppe der Klinik etwas anderes antworten. Ich selbst beschäftige mich aktuell vor allem mit der Bedeutung von körperlichem Training auf die geistige Leistungsfähigkeit – sowohl im Rahmen der Primär- als auch der Sekundärprävention. Wir hoffen, zukünftig hierfür enger mit den Kollegen der Kölner Sporthochschule, die in dem Gebiet schon viel Erfahrung haben, zusammenarbeiten zu können.

Wann hast du entschieden, zusätzlich auch Psychiaterin zu werden und warum?
Das Schöne im Bereich der klinischen Arbeit bzw. der Forschung im Demenzbereich ist, dass Neurologie und Psychiatrie hier eine große Schnittmenge bilden. Es war also tatsächlich eine Entscheidung für ein „Und“, nicht für ein „Oder“. So richtig Feuer gefangen für die Psychiatrie habe ich in meinem Rotationsjahr als Neurologin. Einen ganz entscheidenden Beitrag hierzu hat sicher das wirklich wundervolle Team der Station geleistet, auf der ich 2015 meine Psychiatriezeit begonnen habe. Hier hat einfach alles gestimmt: die Kommunikation zwischen allen beteiligten Berufsgruppen und vor allem auch mit den Patienten. Das Maß menschlicher und fachlicher Kompetenz hat mich wirklich begeistert. Zudem gefällt mir der ganzheitliche Blick, mit dem die Psychiatrie ihre Patienten betrachtet. Über die Arbeitsgruppe der Klinik bekam ich dann die Möglichkeit, nicht nur meinen klinischen Schwerpunkt im Bereich der Demenz zu vertiefen, sondern hier auch wissenschaftlich einzusteigen.

„Ich bin der Meinung, dass sich Psychiater mit dem spannendsten aller menschlichen Organe beschäftigen – auch wenn jetzt wahrscheinlich jeder Kardiologe energisch protestieren wird.“

Was ist das Faszinierende an deinem Beruf?
Psychiatrie ist ein unglaublich vielfältiges Fach. Ich bin der Meinung, dass sich Psychiater mit dem spannendsten aller menschlichen Organe beschäftigen – auch wenn jetzt wahrscheinlich jeder Kardiologe energisch protestieren wird. Wir wissen zwar schon eine Menge darüber, wie das Gehirn funktioniert, aber natürlich längst nicht alles. Und selbst das, was wir wissen, verstehen wir zu großen Teilen noch nicht vollständig. Dennoch haben wir inzwischen die Möglichkeit, viele Krankheitsbilder gut behandeln zu können. Ich persönlich finde es einfach faszinierend, psychische Phänomene – zumindest teilweise – neurobiologisch erklären zu können. Symptome werden so greifbar und im Idealfall lassen sich über dieses Wissen entsprechende Behandlungsstrategien erarbeiten.

Jetzt hat es dich gepackt und du willst wissen, wie du Psychiater werden kannst? Wir haben für dich alle Fakten zusammengestellt!

Lexikon

Mehr als 1,5 Million Menschen leiden in Deutschland an einer Demenz. Im Allgemeinen sind Gedächtnis, Sprache, Erkennen, Lernen und Planen sowie die emotionalen und sozialen Fähigkeiten eines Menschen beeinträchtigt. Grundsätzlich kann es jeden treffen. Der größte Risikofaktor ist das Alter. Sie können als Folge anderer Krankheiten auftreten – bei vielen Formen ist aber immer noch unklar, wie sie entstehen. Es handelt sich oft um nicht heilbare, fortschreitende Erkrankungsformen, deren Verlauf aber positiv beeinflussbar ist.

Alles Alzheimer?
Gedächtnis, Wahrnehmung, Erinnerungsvermögen: All das funktioniert bei einem gesunden Gehirn dank eines komplexen Netzwerks aus weit über 100 Milliarden Nervenzellen. Bei den neurodegenerativen Demenzen, zu denen die Alzheimer-Erkrankung gehört, ist der Informationsaustausch zwischen den Nervenzellen gestört. Im weiteren Verlauf der Erkrankung sterben schließlich die Hirnzellen selbst ab. Schuld sind zwei Eiweiße, die sich zwischen und in den Nervenzellen im Gehirn ablagern: Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen genannt. Früher waren diese Amyloid-Plaques und Neurofibrillen nur unter dem Mikroskop nach der Autopsie bei Verstorbenen sichtbar.

Bahnbrechend: Biomarker
Seit ca. 20 Jahren Biomarker sind messbare, also objektiv erfassbare biologische Parameter – zum Beispiel über Messungen im Blut oder in der Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor). Sie geben Auskunft darüber, ob ein pathologischer Prozess im Organismus abläuft. Im Rahmen der Demenzdiagnostik geht es um die Bestimmung von Amyloid und des Tau-Proteins sowie seiner phosphorylierten Form (pTau) im Liquor.

Dank neuester Technik ist es heute sogar möglich, Biomarker mit bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emission-Tomographie (PET) sichtbar zu machen. Neuste Forschung zeigt zudem Erfolge bei der Messung der Amyloid-Plaques im Blut, was die Bestimmung der Biomarker stark vereinfachen würde: Blutabnehmen ist um ein Vielfaches einfacher als die Entnahme von Liquorflüssigkeit.

„Faszinierend ist, dass die Veränderungen der Biomarker bereits bis zu 20 Jahre vor Auftreten der Erkrankung nachweisbar sind und sich damit ein großes Fenster für Prävention eröffnet.“

Heute ist auch die Vorhersage der Erkrankung und die Schätzung des Erkrankungsrisikos anhand von Biomarkern möglich. Insbesondere bei Personen mit einer bereits leichten kognitiven Gedächtnisstörung ist eine Schätzung für die Entwicklung einer Demenz innerhalb von fünf Jahren mit einem Risiko zwischen unter 10 % und über 90 % anhand der Veränderungen der Biomarker möglich. Neben Blutbiomarkern wird es wahrscheinlich in der Zukunft noch weitere Marker für andere pathologische Komponenten bei einer Demenz geben. Von besonderer Bedeutung werden die Biomarker sein, wenn wirksame Medikamente zur Verfügung stehen, die auf einzelne molekulare Aspekte der Erkrankung abzielen. Die Erfassung ihrer Dynamik kann dann helfen, Aufschluss über den Erfolg der Behandlung geben.

Die anderen nicht zu vergessen
Die Alzheimer-Erkrankung mit den charakteristischen Plaques, übrigens benannt nach dem deutschen Arzt Alois Alzheimer (1864–1915), ist die häufigste Form von Demenz. Es gibt noch viele weitere Krankheitsbilder, die mit anderen Ursachen im Zusammenhang stehen. Die wichtigsten anderen Erkrankungsformen sind vaskuläre Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz und frontotemporale Demenz. Auch Mischformen kommen vor.

Einer vaskulären Demenz liegen Schäden auf Gefäßebene zugrunde. Menschen mit Diabetes oder mit Bluthochdruck haben ein besonders großes Risiko für Veränderungen der kleinen Blutgefäße im Gehirn, weswegen diese Erkrankungen unbedingt konsequent behandelt werden müssen. Gefäßveränderungen verursachen chronische Durchblutungsstörungen im Gehirn bis hin zu Schlaganfällen. Die Behandlung von Bluthochdruck und Diabetes schützt übrigens auch vor Alzheimer.

Bei der Lewy-Körperchen-Erkrankung entwickeln die Betroffenen zusätzlich zu den kognitiven Einschränkungen ein Parkinson-Syndrom. Es finden sich sogenannte Lewy-Körperchen in den Nervenzellen der Großhirnrinde.  Zum Krankheitsbild gehören detailreiche optische Wahrnehmungsstörungen, schwankende Beeinträchtigungen der geistigen Fähigkeiten und motorische Parkinson-Symptome.

Dann gibt es noch die frontotemporale Demenz, die sich klinisch in der Regel nochmal stark von den anderen Formen unterscheidet. Betroffene zeigen hier früh deutliche Veränderungen der Persönlichkeit und im Verhalten. Außerdem gibt es auch noch Demenzen, die im Rahmen von chronischem Alkoholismus („Korsakow-Syndrom“), Schädel-Hirn-Verletzungen, Hirntumoren, Schilddrüsenunterfunktion, entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems wie Multiple Sklerose oder AIDS oder im Zusammenhang mit Depressionen auftreten.

Diagnose Demenz
Bei ersten Anzeichen von Vergesslichkeit oder dem Eindruck, dass sich die Denkleistung entscheidend verändert, ist der Gang zum Arzt das A und O – je früher, desto besser. Der Hausarzt kann der erste Ansprechpartner sein. Die korrekte Diagnose ist wichtig, um die behandelbaren Ursachen (wie z. B. Depressionen, Hirntumor, Schilddrüsenfunktionsstörung etc.) auszuschließen und mit einer passenden Therapie zu beginnen. Die Diagnose können vor allem Psychiater und Neurologen stellen. Gedächtnisambulanzen (oder auch „Memory Kliniken“ genannt) sind besonders spezialisierte Einrichtungen zur Diagnostik und Therapie von Demenzerkrankungen. Da es sich um nicht heilbare, fortschreitende Erkrankungsformen handelt, ist die Diagnose für die Betroffenen und ihre Angehörigen oft schockierend und schmerzlich.

„Eine Demenz verändert das Verhalten eines Menschen nach und nach.“

Dies mitzuerleben kann neben dem Betroffenen auch für die Angehörigen und das weitere Umfeld sehr belastend sein. Die Veränderung kann viele Gesichter haben und für die Familie ist es wichtig, sich zu einem möglichst frühen Zeitpunkt mit dem Erkrankungsbild und dessen Prognose auseinanderzusetzen. Wichtig ist zudem, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, wenn man sie braucht. Insbesondere pflegende Angehörige sollten sich ausführlich über Hilfsangebote beraten lassen.

Neue Therapien am Horizont
Die Versorgung von Menschen mit Demenz wird zu einer der größten Herausforderungen unserer Zeit: Durch die alternde deutsche Gesellschaft wird die Zahl der Betroffenen von aktuell mehr als 1,5 Million Menschen mit Demenz auf voraussichtlich 3 Millionen bis zum Jahr 2050 steigen. Die gute Nachricht: Das Verständnis der molekularen Grundlagen der Alzheimer Krankheit wächst rasant. Das Ziel der aktuelle Therapieentwicklung ist es, die pathologischen Kaskaden der Erkrankung aufzuhalten und damit das Fortschreiten zu verhindern. Tatsächlich ist es heute bereits möglich, die Amyloidablagerungen im Gehirn von Alzheimer Patienten zu reduzieren. Trotzdem zeigten leider vielen Studien der letzten Jahre keinen ausreichenden klinischen Effekt auf die Symptome der Erkrankung. Weiterhin besteht aber die Hoffnung, dass in den nächsten Jahren auch neue wirksame Medikamente verfügbar sein werden. Interessanterweise handelt es sich bei den meisten Substanzen, die heute entwickelt werden, um Medikamente, die gegen Amyloid gerichtet sind. Eine neue Generation von Substanzen zur Verzögerung der Alzheimer-Krankheit richtet die sich gegen das Tau-Protein und die Neurofibrillen.

Genetische Untersuchungen zeigen immer deutlicher, dass Entzündungsprozesse bei der Alzheimer-Krankheit eine zentrale Rolle spielen. Es ist daher davon auszugehen, dass auch neue Medikamente entwickelt werden, die diese Entzündungsreaktionen unterdrücken. Neben der Wahl des richtigen Medikaments ist auch der Zeitpunkt der Behandlung entscheidend.

„Man geht heute davon aus, dass bei frühem Eingreifen die Chancen am besten stehen, das weitere Fortschreiten substanziell aufzuhalten.“

Daher liegt die Hoffnung in der Behandlung vor der Demenz bei Patienten, die leichte oder keine Symptome haben, aber bei denen mittels Biomarker Hinweise für das Vorliegen der Alzheimer-Krankheit besteht. Diese Gruppe von Patienten wird aktuell intensiv in klinischen Studien untersucht. Grundsätzlich ist die Alzheimer Krankheit komplex und es wird keinen einfachen Weg geben, sie aufzuhalten; die Erfolge der letzten wenigen Jahre machen aber Hoffnung, dass ein Durchbruch nicht mehr in ganz weiter Ferne liegt.

Abgesehen von Demenz behandelst du als Psychiater viele andere psychische Erkrankungen. Welche anderen Krankheitsbilder am häufigsten vorkommen, haben wir für dich in unserem Überblick zusammengestellt. 

Artikel

Plötzlich hing ein Mobile über dem Bett meiner Großmutter. Ihr Blick war stets starr darauf gerichtet, auf ihrem Gesicht gab es nach außen keine Mimik mehr und, wie ich mir immer vorstellte, auch kein Leben mehr im Inneren. Wieso? Demenz. Sechs Buchstaben, ein Wort, eine Diagnose, die nicht nur für die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen einen niederschmetternden Beigeschmack hat. Ich hatte ihn mir selbst schon auf der Zunge zergehen lassen müssen. Als ich für mein Studium von zu Hause wegzog, traten die Symptome bei meiner Großmutter immer deutlicher zum Vorschein. Sie musste in ein Pflegeheim umziehen.

Meine Mutter war mit der Situation auf sich allein gestellt. Sie hatte nicht nur verkraften müssen, dass sie das Leben ihrer eigenen Mutter nach und nach ausmisten musste, sondern auch, dass diese Mutter uns alle Stück für Stück vergaß. Damit umzugehen war schwer, für sie natürlich noch mehr als für mich. In dem Pflegeheim, das wir für meine Oma ausgesucht hatten, traten mit der Zeit immer größere Pflegemängel auf. So groß, dass selbst in den Medien darüber berichtet wurde und das Heim kurz vor der Schließung stand. Zwar konnten wir sie rechtzeitig in ein besseres Heim versetzen lassen, doch ihr Gesundheitszustand hatte sich bereits drastisch verschlechtert. Dass in der Pflege oft aus diversen Gründen Dinge falsch laufen,hört man immer wieder. Umso wichtiger ist es, den Problemen etwas Positives entgegen zu setzen. Dies ist kein Text über Pflegeskandale und politische Versäumnisse, sondern eine von vielen Antwortmöglichkeiten auf die Frage: Was kann man ändern?

In der Heimzeit meiner Großmutter habe ich mich immer gefragt, was ich als Enkelin hätte besser machen können, um ihr zu helfen. Welche Unterstützung hätte uns als Familie geholfen? Meine Antwort war: Menschen von außen, Entlastung. Durch eine Freundin, die sich bereits ehrenamtlich engagierte, wusste ich, dass es diese Hilfsangebote gibt. Bereits zu Schulzeiten hatte wiederum eine andere Freundin wochenends einen Mann im Heim besucht und mit ihm Schach gespielt. Das hatte mir imponiert, doch wenn ich ehrlich bin, hatte ich ihr Handeln damals gar nicht richtig verstanden. Das Wort Ehrenamt war für mich früher immer mit Kirche und zu großem Zeiteinsatz behaftet.

Meine Freundinnen als Vorbilder und die eigene Erfahrung lösten dann Jahre später in mir den Wunsch aus, selbst aktiv zu werden. Die Person zu sein, die uns damals geholfen hätte. Ich wollte irgendetwas tun, da ich meiner eigenen Familie durch mein Studium in einer anderen Stadt nicht helfen konnte. Deshalb beschloss ich, selbst ein Ehrenamt zu beginnen.

Ins Ehrenamt in der Pflege einsteigen
Der Entschluss stand und die Idee, welches Ehrenamt ich gerne machen würde, auch. Ich hatte mal von diesen Demenz-WGs gehört, in denen eine kleine Gruppe von Menschen, die daran erkrankt ist, zusammenlebt und betreut wird. Die Idee gefiel mir, besonders nach den schlechten Erfahrungen im Pflegeheim. Für mich stand fest: Ich möchte den persönlichen Bezug zu einer Person suchen, die ich intensiv betreuen kann. Mein Wunsch war es, den erkrankten Menschen etwas zu geben und vor allem, Angehörige zu entlasten.

Ich recherchierte Träger, bei denen ich als Ehrenamtliche beginnen konnte. Dabei stieß ich auf diverse Einrichtungen wie die Johanniter, den Verein Selbstbestimmtes Wohnen im Alter und das Projekt Haltestelle der Diakonie, an das ich mich dann letztlich wandte. Das Projekt möchte Menschen, vor allem mit Demenz, im Alltag für ein paar Stunden unterstützen. Ich erklärte also mein Interesse, Teil des Ehrenamt-Teams zu werden und traf die damalige Leiterin des Stadtteils, in dem ich tätig sein wollte, zum ersten Gespräch.

Dort lernte ich schnell: So einfach ins kalte Wasser springen – das geht nicht. Zunächst durfte ich einen Ehrenamtskurs absolvieren, der mir finanziert wurde und den ich für sehr wichtig halte. Denn um mit Menschen mit Demenz umgehen zu können, benötigt man viel Wissen um das Krankheitsbild, den Umgang und die rechtlichen Grundlagen, die man als Ehrenamtler*in hat. Nachdem ich ihn abgeschlossen hatte, ging alles sehr schnell und ich bekam meinen ersten Besuchsdienst zugeteilt: Mira.

Für kurze Zeit besuchte ich sie einmal wöchentlich in ihrem kleinen Zuhause. An solchen Tagen unterhielt ich mich mit ihr, hörte zu. Sie zeigte mir Bilder aus ihrer Kindheit in Polen, erzählte von den verschiedenen Berufen, die sie damals ausübte. Einmal lasen wir uns zusammen aus einem Buch mit polnisch-deutscher Übersetzung vor. Ich die deutschen, Mira die polnischen Passagen. Das waren sehr schöne Momente, doch lange konnte ich sie nicht besuchen, da auch sie in ein Pflegeheim ziehen musste. Mira war nicht nur eine wunderbare Frau, sondern auch eine wichtige Lektion für mein Ehrenamt. Plötzlich erinnerte mich alles, was mit ihr passierte, an meine Großmutter. Ich verstand: Emotional an die Sache heranzugehen ist wichtig, aber auch, dabei die nötige Distanz zu wahren. Denn den erkrankten Menschen helfen und ihnen etwas geben kann man nur, wenn man selbst nicht zu sehr belastet ist.

„Emotional an die Sache heranzugehen ist wichtig, aber auch, dabei die nötige Distanz zu wahren.“

Nachdem ich noch ein paar Besuche bei anderen Klient*innen absolviert und weitere Erfahrungen gesammelt hatte, wuchs in mir der Wunsch, mein anfängliches Ziel doch noch mal zu verfolgen. Ich wechselte von den Hausbesuchen zu einer Demenz-WG, die ohnehin schon in unserem Projekt involviert war.

Projekt Demenz-WG
Dort bekam ich die Möglichkeit, eine Dame, Frau A., im Wohnprojekt zu besuchen. Das mache ich auch heute noch ab und zu. Das Haus, in dem die WG sitzt und der intime Rahmen gefallen mir sehr. So etwas hätte ich mir für meine Großmutter auch gewünscht. Das selbstbestimmte Wohnen wird hier groß geschrieben, es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Selbst wenn es hier sicherlich ab und an zu Unterbesetzungen kommt, hatte ich bisher immer das Gefühl, dass die Pflegekräfte gezielter mit ihren Bewohner*innen umgehen können und somit eine direktere Betreuung stattfindet.

„So etwas hätte ich mir für meine Großmutter auch gewünscht.“

Das liegt vor allem auch daran, dass so viele Ehrenamtliche hierher kommen. Sie können sich in ihrer Besuchszeit darauf konzentrieren, schöne Dinge mit den Bewohner*innen zu machen, für die in der alltäglichen Pflege keine Zeit bleibt. Das heißt: mit ihnen spazieren zu gehen, kognitive Angebote anzubieten; zu spielen, singen, vorzulesen, zu basteln, Gedächtnistraining zu absolvieren.

Dass das wichtig ist, bestätigt mir auch die 24-jährige Elena bei meinem letzten Besuch. Sie befindet sich im zweiten Lehrjahr ihrer Ausbildung zur Altenpflegerin und absolviert derzeit ein Praktikum in der Demenz-WG. Da Elena normalerweise stationär arbeitet, sieht auch sie Unterschiede zum selbstbestimmten Wohnen: „Bei uns auf Station sehe ich kaum Ehrenamtliche, was sehr schade ist, da wir teilweise zu dritt zuständig für 28 Bewohner*innen sind. Da bleibt keine Zeit zum Spielen. Hier in der WG sind wir am Morgen vier Leute auf elf Bewohner*innen. Das ist ein ganz anderes Arbeiten als das stationäre.“

Ich frage sie, wie sie die Arbeit von Ehrenamtlichen einschätzt: „Die Hilfe von Ehrenamtler*innen ist sehr wichtig. Wir Pflegekräfte haben nicht immer die Zeit, zum Beispiel mit den Bewohner*innen spazieren zu gehen. Deswegen ist es wichtig, dass sich Leute ehrenamtlich engagieren. Nicht nur für uns, auch die Menschen freuen sich über einen Tapetenwechsel und darüber, mal ins Café gehen zu können.“

Und das stimmt. Es ist kein Klischee, zu sagen, dass man im Ehrenamt etwas zurückbekommt. Bei all meinen Besuchen bei Frau A. hat mir ein Lächeln, ein Lachen, eine positive Reaktion mit ihr gereicht, um zu wissen, dass das, was ich tue, Sinn macht und hilft. Auch Elena findet, dass die schönsten Momente die sind, wenn man den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Und wenn ich mich erinnere, wie Frau A. laut gejubelt hat bei einem unserer Spaziergänge oder plötzlich wieder ganz lebendig wurde, wenn sie draußen Kinder lachen hörte und Hunde bellen, dann weiß ich, dass es diese kleinen Momente sind, die mein Handeln bestärken.

„Es ist kein Klischee, zu sagen, dass man im Ehrenamt etwas zurückbekommt.“

Sich in einem Ehrenamt zu engagieren, lohnt sich. Vor allem als junger Mensch, für den es weniger anstrengend ist, einen schweren Rollstuhl zu schieben oder neben dem Studium ein kleines Zeitfenster für andere Menschen zu finden. Denn die meisten Ehrenamtler*innen in meinem Team sind deutlich älter als ich und ich denke, dass, selbst wenn man sich nicht gerne mit der Thematik Alter beschäftigt, es uns doch alle verbindet.

Wenn ihr also auch schon mal die Idee hattet, schaut es euch an, werdet aktiv. Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich für Menschen im Alter einzusetzen. Und das Schönste: Es wird eigentlich immer mit tiefer Dankbarkeit belohnt.

Der Original-Artikel ist am 28.3.2018 auf ze.tt erschienen.

Fotoreportage

Im Sommer 2008 beschloss Lothar Gärtner mit seiner Frau Elke eine letzte große Reise zu wagen. Ihr gemeinsames Leben lang hatten sie Europa mit dem Wohnwagen bereist. Elke hatte 2 Jahre zuvor die Diagnose erhalten, dass sie an Alzheimer erkrankt war. Lothar wollte sie so lange wie möglich in ihrem gemeinsamen Haus pflegen und auf ihrem Weg begleiten.

Im März 2008 begann Fotografin Sibylle Fendt, Lothar und Elke in ihrer Heimat zu fotografieren.

Im August und September 2008 begleitete sie sie dann auf ihrer letzten Reise durch Polen, Litauen, Lettland, Estland bis nach Sankt Petersburg und zurück. Die Bilder, die dabei entstanden sind, sind keine Reisedokumente. Sie sind Symbole für eine Reise in unbekanntes Terrain.

Elke verstarb völlig unerwartet im Februar 2009 in Folge eines Sturzes.


„CRAZY – Leben mit psychischen Erkrankungen“

Die Ausstellung präsentiert Arbeiten von fünf international renommierten Fotograf*innen. Sie haben sich aus ganz persönlichen Gründen mit dem Thema auseinandergesetzt.