Interview
„Das hat mich total getriggert!“ | „Ich bin voll traumatisiert.“ | „Einfach nur toxisch, der Typ.“ – Wörter, die eigentlich aus dem Psych-Bereich kommen, sind längst in den Alltagssound übergegangen. Wo hört Drama, Drama, Drama auf und wann wird es echt ernst?
AB JETZT.
Welche Arten von Ereignissen oder Erfahrungen sind traumatisch, Herr Schäfer?
Ereignisse können dann traumatisieren, wenn sie uns bzw. die innerpsychischen Bewältigungsmöglichkeiten massiv überfordern. Von einer richtigen Traumatisierung sollte man allerdings erst sprechen, wenn es in der Folge zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychische Störungen kommt. Besonders häufig ist das der Fall, wenn die körperliche Unversehrtheit der eigenen Person oder Anderer gefährdet war: etwa durch Unfälle, Katastrophen oder körperliche Gewalt. Auch andere Erlebnisse wie sexuelle Übergriffe können – auch wenn im Einzelfall vielleicht keine körperliche Gewalt im Spiel war – zu Traumafolgestörungen führen. Ähnliches trifft auf andere schwere Belastungen in der Kindheit zu, wie emotionale Gewalt oder Vernachlässigung durch nahe Bezugspersonen.
Welche individuellen Unterschiede bestimmen, wie Menschen auf traumatische Ereignisse reagieren und sie verarbeiten?
Es gibt eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren, die hier zum Tragen kommen können. Schon bestehende Traumatisierungen oder ein geringes Alter zum Zeitpunkt der belastenden Ereignisse können zum Beispiel das Risiko für ein Trauma erhöhen. Bestimmte individuelle Eigenschaften können es dagegen verringern. Etwa die Ereignisse kognitiv einzuordnen und einen Sinn darin zu sehen.
„Auf Platz 1 der wichtigsten Schutzfaktoren steht die soziale Unterstützung durch Freunde, Familie und nahestehende Menschen im Allgemeinen.“
Auch bei der Nachsorge nach akuten Traumatisierungen spielt es eine große Rolle, ob man von anderen aufgefangen wird.
Welche Symptome sind charakteristisch für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?
Hauptsymptom der PTBS ist das Wiedererleben des Traumas in der Gegenwart. Wiedererleben kann die Form von sich aufdrängenden Erinnerungen annehmen. Die Betroffenen durchleben das Ereignis oder Elemente davon gefühlsmäßig erneut. Weil das mit solch starken und belastenden Emotionen einhergeht, vermeiden Betroffene die Gedanken an das Ereignis aber auch Aktivitäten, Situationen oder Personen, die damit im Zusammenhang stehen. Außerdem leiden sie an einem Gefühl anhaltender Bedrohung, so dass erhöhte Wachsamkeit oder starke Schreckreaktionen typisch sind. Bei der Komplexen PTBS, die nach wiederholter Gewalt in der Kindheit oder besonders schrecklichen Erlebnissen im Erwachsenenalter auftreten kann, finden sich zusätzlich sogenannte „Störungen der Selbstorganisation“. Für traumatisierte Menschen ist es schwierig, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich anderen nahe zu fühlen.
Inwiefern leidet das Selbstbild und wie beeinflusst es das Verhalten eines Menschen?
Gerade frühe Traumatisierungen, die von nahen Bezugspersonen ausgehen, haben häufig Auswirkungen auf das Selbstbild und das Verhalten Betroffener in Beziehungen. Sie können sich als minderwertig, unfähig oder schlecht erleben und haben nicht selten das Gefühl, nicht zu verdienen, dass es ihnen gut geht. In Beziehungen kann das zu Gefühlen von Unterlegenheit führen und dem Gedanken, nicht wertvoll genug für den Partner zu sein. Schlimmer noch kann es dazu beitragen, dass Betroffene neue Gewalt und Grenzverletzungen in Beziehungen tolerieren aus dem Gedanken heraus, es eben nicht anders zu verdienen. Das negative Selbstbild kann auf diese Weise zur sogenannten „Reviktimisierung“ beitragen. Also dazu, dass Opfer von Gewalt über die Lebensspanne hinweg wiederholt Gewalterfahrungen machen.
Gibt es ein „Traumagedächtnis“? Was passiert im Gehirn?
Die PTBS kann im Kern als Gedächtnisstörung verstanden werden. Die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin unter Hochstress führt dazu, dass Aspekte der traumatischen Situation verstärkt enkodiert werden. Dies ist von Bedeutung für konditionierte Angstreaktionen, die zur Belastung im Alltag beitragen. Es wird angenommen, dass Konditionierungslernen auch bei ungewollten, intrusiv auftretenden Erinnerungen eine Rolle spielt. Klinisch-therapeutisch wird oft von einem „Traumagedächtnis“ gesprochen. Gemeint ist eine Gedächtnisstruktur, die durch ihre besonderen Eigenschaften für die Symptomatik verantwortlich ist und die es im Rahmen einer sogenannten „Traumafokussierten Therapie“ zu behandeln gilt. Das „Traumagedächtnis“ gibt es also durchaus.
Welche Therapien haben sich als wirksam erwiesen?
Die Psychotherapie mit traumafokussierten Methoden stellt den Goldstandard der PTBS-Behandlung dar. Das sind Ansätze, deren Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt. Wichtige Methoden sind die Prolongierte Exposition (PE), die Narrative Expositionstherapie (NET), die Cognitive Processing Therapy (CPT), Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT). All diese Verfahren folgen demselben Grundsatz: Sie aktivieren traumatische Gedächtnisinhalte und adressieren dabei systematisch Sinnesempfindungen, Emotionen und Kognitionen, die in der traumatischen Situation eine Rolle gespielt haben. Die einzelnen Elemente können so besser integriert werden, die PTBS-Symptomatik geht zurück oder kann oft sogar vollständig aufgelöst werden.
Wie unterscheiden sich akute Belastungsreaktionen von länger anhaltenden Traumafolgestörungen?
Die akute Belastungsreaktion ist im Grunde die Reaktionen in den ersten Stunden bis Tagen. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen. Von Panik über Rückzug bis hin zu einer Einengung des Bewusstseins. Sie entspricht dem, was wir als „Schockzustand“ bezeichnen würden und begegnet uns klinisch am ehesten im Notdienst. In der neuen WHO-Klassifikation der psychischen Erkrankungen ist sie nicht mehr als vollwertige Diagnose enthalten, da sich die Ansicht durchgesetzt hat, dass es sich um normalpsychologische Phänomene ohne Krankheitswert handelt. Allerdings kann eine akute Belastungsreaktion in eine PTBS oder andere Traumafolgestörung übergehen. Im amerikanischen DSM, kennt für die ersten vier Wochen hier das zusätzliche Konzept der Acute Stress Disorder, erst danach darf von einer PTBS gesprochen werden. In der ICD gibt es eine solche zeitliche Mindestanforderung nicht. Dennoch sollte die Diagnose in den ersten Wochen nicht zu großzügig gestellt werden, da sich zum Glück bei einem Teil der Betroffenen die Symptome bereits im Verlauf einiger Wochen zurückbilden.
Wie arbeitet eine Trauma-Ambulanz?
Seit zwei Jahren sind Ambulanzen zur Akutversorgung von Gewaltbetroffenen gesetzlich verankert. Um aber eine flächendeckende Versorgung mit Traumaambulanzen sicher zu stellen, müssen überall noch geeignete Strukturen entstehen. In solchen Akutsettings geht es oft um eine Erstberatung Betroffener, in den folgenden Wochen um ein aktives Monitoring und bei einem kleineren Teil auch um traumatherapeutische Interventionen im eigentlichen Sinn. Traumaambulanzen sind auch wichtige Anlaufstellen für Personen mit bereits länger zurückliegenden Belastungen wie Traumatisierungen in der Kindheit. Hier steht oft eine gute Diagnostik, erste Stabilisierung und Weitervermittlung in passende Settings im Vordergrund. Viele Traumaambulanzen bieten spezifische Gruppentherapien an. Traumatherapeutisches Wissen ist aber auch in allen anderen psychiatrischen Settings hilfreich – nicht nur in einer speziellen Ambulanz. Daher gehört es aus meiner Sicht für alle, die im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich arbeiten, in den Erste-Hilfe-Koffer.
Welche Rolle spielen Medikamente bei der Therapie von Traumafolgestörungen, insbesondere bei schweren Fällen?
Medikamente spielen bei der Behandlung von intrusivem Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Gefühl anhaltender Bedrohung nur eine untergeordnete Rolle. Menschen mit komplexeren Traumafolgestörungen können aber von einer zusätzlichen Pharmakotherapie profitieren. Dies gilt auch für Symptome wie Schlafstörungen oder eine affektive Dysregulation, bei denen sich sedierende Antidepressiva teilweise auch dämpfende atypische Antipsychotika in niedriger Dosierung positiv auswirken können.
Woran forschen Sie?
Unsere Arbeitsgruppe setzt einen starken Fokus auf die Psychotherapieforschung und Versorgungsforschung bei Traumafolgestörungen. Aktuell beschäftigen wir uns z. B. mit einem der bislang wenigen empirisch untersuchten Ansätze zur Behandlung der Komplexen PTBS, dem Therapieprogramm „STAIR/Narrative Therapie“. Wir haben eine erweiterte Gruppenversion entwickelt und in ersten Studien überprüft, die es in weiteren Untersuchungen zu evaluieren gilt. Weiter befassen wir uns mit Erkrankungen, die gemeinsam mit einem Trauma auftreten. In den letzten Jahren stand zunehmend die Behandlung von Traumafolgestörungen bei migrierten Menschen im Vordergrund. In einem aktuellen Projekt fließen beide Perspektiven zusammen. Im Rahmen eines größeren, vom BMBF geförderten Forschungs-Netzwerks, haben wir eine Intervention zur Behandlung von Geflüchteten mit traumatischen Belastungen und substanzbezogenen Störungen entwickelt. Ein weiteres Beispiel sind Projekte auf bundesweiter Ebene zu den Bedarfen und der Qualität von Traumaambulanzen. Es gibt also eine Menge zu tun.
Inwiefern tragen frühe Traumatisierungen zu der Entwicklung schwerer psychischer Erkrankungen im Erwachsenenalter bei?
Frühe Traumatisierungen und Belastungen wie frühe Trennung von nahen Bezugspersonen und schwierige familiäre Verhältnisse stellen den stärksten und robustesten Risikofaktor für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter dar, den wir kennen. Als mögliche vermittelnde Faktoren hat die Forschung der letzten Jahrzehnte neurobiologische Veränderungen durch frühe Belastungen aber auch psychologische Prozesse herausgearbeitet. Man kann sagen, dass mindestens ein Drittel bis die Hälfte aller psychiatrischen Patienten in der Kindheit Gewalt erlebt haben. Das heißt, sie haben ein Trauma erlitten, auch wenn die primäre Diagnose keine Traumafolgestörung ist.
Was mögen Sie am meisten an Ihrem Beruf?
Beim Begriff Traumatherapie denken viele vor allem an besondere Belastungen. Ich erlebe das ganz anders. Das Wissen um die Auswirkungen von Traumatisierungen hilft dabei, die Beschwerden Betroffener viel besser zu verstehen. Der Blick auf oft verborgene Traumata führt häufig zu völlig neuen Perspektiven. Solche Wendepunkte erleben Betroffene oft extrem positiv. Hinzu kommt, dass traumafokussierte Methoden mit Abstand zu den wirksamsten Therapien in der Psychiatrie gehören.
„Oft kann man mit nur wenigen Sitzungen eine starke Besserung erreichen.“
Die Arbeit mit Traumafolgestörungen empfinde ich deshalb als sehr bereichernd und sie macht – so paradox es klingen mag – viel Freude.
Welche innovativen Ansätze oder Technologien werden derzeit erforscht, um die Behandlung von Traumafolgestörungen zu verbessern?
Die Forschung wendet sich bereits seit einiger Zeit neuen Formaten und Ansätzen in der Traumatherapie zu. Von virtueller Realität über Behandlungspläne, die mehr Sitzungen in kürzerer Zeit vorsehen, bis hin zur Kombination mit körperlicher Aktivität, um Angsterinnerungen entgegenzuwirken. Klinisch besonders wichtig ist Forschung zu komplexen Traumafolgestörungen, einschließlich dissoziativer Störungen. In den kommenden Jahren werden wir hoffentlich auch Fortschritte in Bezug auf die Frage sehen, welche der verschiedenen Methoden für jeweils spezifische Gruppen von Patientinnen und Patienten besonders hilfreich sind.
„Last but not least hat die Forschung zur MDMA-gestützten Traumatherapie erste vielversprechende Ergebnisse gebracht, die weiter überprüft werden müssen.“
Besonders interessant wäre hier aus meiner Sicht, die Substanz mit unseren Goldstandard-Verfahren zu kombinieren, was bislang noch nicht erfolgt ist.
Jetzt hat es dich gepackt und du willst wissen, wie du Fachärztin bzw. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie werden kannst? Wir haben für dich alle Fakten zusammengestellt!
Bildcredit: Ingo Schäfer, UKE