EMDR hat nichts mit Trance zu tun.

Es geht nicht um Happy Pills, elektronische Beats oder einen hypnotischen Zustand. EMDR ist eine wirksame Methode in der Traumatherapie. Gewalttaten, Unfälle, Krieg oder Naturkatastrophen – extreme Erlebnisse können völlig verstören. Wenn Flashbacks belastende Gefühle in hoher Dosis zurückbringen, hilfst du dabei, dass das Trauma abklingt und der Alltagsrhythmus wieder einsetzt.

Interview

„Das hat mich total getriggert!“ | „Ich bin voll traumatisiert.“ | „Einfach nur toxisch, der Typ.“ – Wörter, die eigentlich aus dem Psych-Bereich kommen, sind längst in den Alltagssound übergegangen. Wo hört Drama, Drama, Drama auf und wann wird es echt ernst?

AB JETZT.

Welche Arten von Ereignissen oder Erfahrungen sind traumatisch, Herr Schäfer?
Ereignisse können dann traumatisieren, wenn sie uns bzw. die innerpsychischen Bewältigungsmöglichkeiten massiv überfordern. Von einer richtigen Traumatisierung sollte man allerdings erst sprechen, wenn es in der Folge zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychische Störungen kommt. Besonders häufig ist das der Fall, wenn die körperliche Unversehrtheit der eigenen Person oder Anderer gefährdet war: etwa durch Unfälle, Katastrophen oder körperliche Gewalt. Auch andere Erlebnisse wie sexuelle Übergriffe können – auch wenn im Einzelfall vielleicht keine körperliche Gewalt im Spiel war – zu Traumafolgestörungen führen. Ähnliches trifft auf andere schwere Belastungen in der Kindheit zu, wie emotionale Gewalt oder Vernachlässigung durch nahe Bezugspersonen.

Welche individuellen Unterschiede bestimmen, wie Menschen auf traumatische Ereignisse reagieren und sie verarbeiten?
Es gibt eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren, die hier zum Tragen kommen können. Schon bestehende Traumatisierungen oder ein geringes Alter zum Zeitpunkt der belastenden Ereignisse können zum Beispiel das Risiko für ein Trauma erhöhen. Bestimmte individuelle Eigenschaften können es dagegen verringern. Etwa die Ereignisse kognitiv einzuordnen und einen Sinn darin zu sehen.

„Auf Platz 1 der wichtigsten Schutzfaktoren steht die soziale Unterstützung durch Freunde, Familie und nahestehende Menschen im Allgemeinen.“

Auch bei der Nachsorge nach akuten Traumatisierungen spielt es eine große Rolle, ob man von anderen aufgefangen wird.

Welche Symptome sind charakteristisch für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?
Hauptsymptom der PTBS ist das Wiedererleben des Traumas in der Gegenwart. Wiedererleben kann die Form von sich aufdrängenden Erinnerungen annehmen. Die Betroffenen durchleben das Ereignis oder Elemente davon gefühlsmäßig erneut. Weil das mit solch starken und belastenden Emotionen einhergeht, vermeiden Betroffene die Gedanken an das Ereignis aber auch Aktivitäten, Situationen oder Personen, die damit im Zusammenhang stehen. Außerdem leiden sie an einem Gefühl anhaltender Bedrohung, so dass erhöhte Wachsamkeit oder starke Schreckreaktionen typisch sind. Bei der Komplexen PTBS, die nach wiederholter Gewalt in der Kindheit oder besonders schrecklichen Erlebnissen im Erwachsenenalter auftreten kann, finden sich zusätzlich sogenannte „Störungen der Selbstorganisation“. Für traumatisierte Menschen ist es schwierig, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich anderen nahe zu fühlen.

Inwiefern leidet das Selbstbild und wie beeinflusst es das Verhalten eines Menschen?
Gerade frühe Traumatisierungen, die von nahen Bezugspersonen ausgehen, haben häufig Auswirkungen auf das Selbstbild und das Verhalten Betroffener in Beziehungen. Sie können sich als minderwertig, unfähig oder schlecht erleben und haben nicht selten das Gefühl, nicht zu verdienen, dass es ihnen gut geht. In Beziehungen kann das zu Gefühlen von Unterlegenheit führen und dem Gedanken, nicht wertvoll genug für den Partner zu sein. Schlimmer noch kann es dazu beitragen, dass Betroffene neue Gewalt und Grenzverletzungen in Beziehungen tolerieren aus dem Gedanken heraus, es eben nicht anders zu verdienen. Das negative Selbstbild kann auf diese Weise zur sogenannten „Reviktimisierung“ beitragen. Also dazu, dass Opfer von Gewalt über die Lebensspanne hinweg wiederholt Gewalterfahrungen machen.

Gibt es ein „Traumagedächtnis“? Was passiert im Gehirn?
Die PTBS kann im Kern als Gedächtnisstörung verstanden werden. Die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin unter Hochstress führt dazu, dass Aspekte der traumatischen Situation verstärkt enkodiert werden. Dies ist von Bedeutung für konditionierte Angstreaktionen, die zur Belastung im Alltag beitragen. Es wird angenommen, dass Konditionierungslernen auch bei ungewollten, intrusiv auftretenden Erinnerungen eine Rolle spielt. Klinisch-therapeutisch wird oft von einem „Traumagedächtnis“ gesprochen. Gemeint ist eine Gedächtnisstruktur, die durch ihre besonderen Eigenschaften für die Symptomatik verantwortlich ist und die es im Rahmen einer sogenannten „Traumafokussierten Therapie“ zu behandeln gilt. Das „Traumagedächtnis“ gibt es also durchaus.

Welche Therapien haben sich als wirksam erwiesen?
Die Psychotherapie mit traumafokussierten Methoden stellt den Goldstandard der PTBS-Behandlung dar. Das sind Ansätze, deren Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt. Wichtige Methoden sind die Prolongierte Exposition (PE), die Narrative Expositionstherapie (NET), die Cognitive Processing Therapy (CPT), Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT). All diese Verfahren folgen demselben Grundsatz: Sie aktivieren traumatische Gedächtnisinhalte und adressieren dabei systematisch Sinnesempfindungen, Emotionen und Kognitionen, die in der traumatischen Situation eine Rolle gespielt haben. Die einzelnen Elemente können so besser integriert werden, die PTBS-Symptomatik geht zurück oder kann oft sogar vollständig aufgelöst werden.

Wie unterscheiden sich akute Belastungsreaktionen von länger anhaltenden Traumafolgestörungen?
Die akute Belastungsreaktion ist im Grunde die Reaktionen in den ersten Stunden bis Tagen. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen. Von Panik über Rückzug bis hin zu einer Einengung des Bewusstseins. Sie entspricht dem, was wir als „Schockzustand“ bezeichnen würden und begegnet uns klinisch am ehesten im Notdienst. In der neuen WHO-Klassifikation der psychischen Erkrankungen ist sie nicht mehr als vollwertige Diagnose enthalten, da sich die Ansicht durchgesetzt hat, dass es sich um normalpsychologische Phänomene ohne Krankheitswert handelt. Allerdings kann eine akute Belastungsreaktion in eine PTBS oder andere Traumafolgestörung übergehen. Im amerikanischen DSM, kennt für die ersten vier Wochen hier das zusätzliche Konzept der Acute Stress Disorder, erst danach darf von einer PTBS gesprochen werden. In der ICD gibt es eine solche zeitliche Mindestanforderung nicht. Dennoch sollte die Diagnose in den ersten Wochen nicht zu großzügig gestellt werden, da sich zum Glück bei einem Teil der Betroffenen die Symptome bereits im Verlauf einiger Wochen zurückbilden.

Wie arbeitet eine Trauma-Ambulanz?
Seit zwei Jahren sind Ambulanzen zur Akutversorgung von Gewaltbetroffenen gesetzlich verankert. Um aber eine flächendeckende Versorgung mit Traumaambulanzen sicher zu stellen, müssen überall noch geeignete Strukturen entstehen. In solchen Akutsettings geht es oft um eine Erstberatung Betroffener, in den folgenden Wochen um ein aktives Monitoring und bei einem kleineren Teil auch um traumatherapeutische Interventionen im eigentlichen Sinn. Traumaambulanzen sind auch wichtige Anlaufstellen für Personen mit bereits länger zurückliegenden Belastungen wie Traumatisierungen in der Kindheit. Hier steht oft eine gute Diagnostik, erste Stabilisierung und Weitervermittlung in passende Settings im Vordergrund. Viele Traumaambulanzen bieten spezifische Gruppentherapien an. Traumatherapeutisches Wissen ist aber auch in allen anderen psychiatrischen Settings hilfreich – nicht nur in einer speziellen Ambulanz. Daher gehört es aus meiner Sicht für alle, die im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich arbeiten, in den Erste-Hilfe-Koffer.

Welche Rolle spielen Medikamente bei der Therapie von Traumafolgestörungen, insbesondere bei schweren Fällen?
Medikamente spielen bei der Behandlung von intrusivem Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Gefühl anhaltender Bedrohung nur eine untergeordnete Rolle. Menschen mit komplexeren Traumafolgestörungen können aber von einer zusätzlichen Pharmakotherapie profitieren. Dies gilt auch für Symptome wie Schlafstörungen oder eine affektive Dysregulation, bei denen sich sedierende Antidepressiva teilweise auch dämpfende atypische Antipsychotika in niedriger Dosierung positiv auswirken können.

Woran forschen Sie?
Unsere Arbeitsgruppe setzt einen starken Fokus auf die Psychotherapieforschung und Versorgungsforschung bei Traumafolgestörungen. Aktuell beschäftigen wir uns z. B. mit einem der bislang wenigen empirisch untersuchten Ansätze zur Behandlung der Komplexen PTBS, dem Therapieprogramm „STAIR/Narrative Therapie“. Wir haben eine erweiterte Gruppenversion entwickelt und in ersten Studien überprüft, die es in weiteren Untersuchungen zu evaluieren gilt. Weiter befassen wir uns mit Erkrankungen, die gemeinsam mit einem Trauma auftreten. In den letzten Jahren stand zunehmend die Behandlung von Traumafolgestörungen bei migrierten Menschen im Vordergrund. In einem aktuellen Projekt fließen beide Perspektiven zusammen. Im Rahmen eines größeren, vom BMBF geförderten Forschungs-Netzwerks, haben wir eine Intervention zur Behandlung von Geflüchteten mit traumatischen Belastungen und substanzbezogenen Störungen entwickelt. Ein weiteres Beispiel sind Projekte auf bundesweiter Ebene zu den Bedarfen und der Qualität von Traumaambulanzen. Es gibt also eine Menge zu tun.

Inwiefern tragen frühe Traumatisierungen zu der Entwicklung schwerer psychischer Erkrankungen im Erwachsenenalter bei?
Frühe Traumatisierungen und Belastungen wie frühe Trennung von nahen Bezugspersonen und schwierige familiäre Verhältnisse stellen den stärksten und robustesten Risikofaktor für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter dar, den wir kennen. Als mögliche vermittelnde Faktoren hat die Forschung der letzten Jahrzehnte neurobiologische Veränderungen durch frühe Belastungen aber auch psychologische Prozesse herausgearbeitet. Man kann sagen, dass mindestens ein Drittel bis die Hälfte aller psychiatrischen Patienten in der Kindheit Gewalt erlebt haben. Das heißt, sie haben ein Trauma erlitten, auch wenn die primäre Diagnose keine Traumafolgestörung ist.

Was mögen Sie am meisten an Ihrem Beruf?
Beim Begriff Traumatherapie denken viele vor allem an besondere Belastungen. Ich erlebe das ganz anders. Das Wissen um die Auswirkungen von Traumatisierungen hilft dabei, die Beschwerden Betroffener viel besser zu verstehen. Der Blick auf oft verborgene Traumata führt häufig zu völlig neuen Perspektiven. Solche Wendepunkte erleben Betroffene oft extrem positiv. Hinzu kommt, dass traumafokussierte Methoden mit Abstand zu den wirksamsten Therapien in der Psychiatrie gehören.

„Oft kann man mit nur wenigen Sitzungen eine starke Besserung erreichen.“

Die Arbeit mit Traumafolgestörungen empfinde ich deshalb als sehr bereichernd und sie macht – so paradox es klingen mag – viel Freude.

Welche innovativen Ansätze oder Technologien werden derzeit erforscht, um die Behandlung von Traumafolgestörungen zu verbessern?
Die Forschung wendet sich bereits seit einiger Zeit neuen Formaten und Ansätzen in der Traumatherapie zu. Von virtueller Realität über Behandlungspläne, die mehr Sitzungen in kürzerer Zeit vorsehen, bis hin zur Kombination mit körperlicher Aktivität, um Angsterinnerungen entgegenzuwirken. Klinisch besonders wichtig ist Forschung zu komplexen Traumafolgestörungen, einschließlich dissoziativer Störungen. In den kommenden Jahren werden wir hoffentlich auch Fortschritte in Bezug auf die Frage sehen, welche der verschiedenen Methoden für jeweils spezifische Gruppen von Patientinnen und Patienten besonders hilfreich sind.

„Last but not least hat die Forschung zur MDMA-gestützten Traumatherapie erste vielversprechende Ergebnisse gebracht, die weiter überprüft werden müssen.“

Besonders interessant wäre hier aus meiner Sicht, die Substanz mit unseren Goldstandard-Verfahren zu kombinieren, was bislang noch nicht erfolgt ist.

Jetzt hat es dich gepackt und du willst wissen, wie du Fachärztin bzw. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie werden kannst? Wir haben für dich alle Fakten zusammengestellt!

 

Bildcredit: Ingo Schäfer, UKE

Lexikon

Starke emotionale Reaktionen zu erleben, ist erst einmal vollkommen natürlich. Wenn diese jedoch länger anhalten und von bestimmten Symptomen begleitet werden, wird dies als „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) bezeichnet. In solchen Fällen ist es wichtig, sich in Behandlung zu begeben, da andernfalls die Symptome über Jahre hinweg anhalten können. Studien weisen darauf hin, dass der Anteil der Menschen, die nach einer traumatischen Erfahrung eine PTBS entwickeln, von der Art des Ereignisses abhängt: Die Zahlen liegen zwischen 10 % (Unfälle) und 80 % (Folter).

Eben war der Himmel noch blau
Was ist eigentlich ein psychisches Trauma? Ein psychisches Trauma entsteht, wenn jemand mit der realen oder drohenden Gefahr des Todes, schweren körperlichen oder emotionalen Verletzungen oder sexueller Gewalt konfrontiert wird. Dies kann auf persönlicher Ebene erlebt werden oder auch, wenn man Zeuge von Gewalt oder Bedrohung wird, insbesondere wenn nahestehende Menschen betroffen sind. Ein Trauma kann nach einer einzigen extremen Erfahrung auftreten, kann aber auch aus wiederholten ähnlichen Situationen resultieren.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt ein psychisches Trauma in ihrer ICD-10 als ein außergewöhnlich bedrohliches oder katastrophales Ereignis, das bei den meisten Menschen tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Aber wie erkennt man, ob man traumatisiert ist? Eine PTBS ist durch spezifische Symptome gekennzeichnet, die in verschiedene Kategorien eingeteilt werden können:

  • Wiedererleben: Dies beinhaltet das wiederholte Auftreten von Erinnerungen an das Trauma, Albträume, Flashbacks, bei denen man sich fühlt, als ob man das traumatische Ereignis erneut erlebt.
  • Vermeidung: Menschen mit PTBS versuchen, Gedanken an das traumatische Ereignis und die damit verbundenen Gefühle zu vermeiden. Sie meiden Orte, Menschen und Situationen, die sie an das Trauma erinnern.
  • Übererregung: Betroffene können unter anhaltendem körperlichem oder emotionalem Stress leiden, sind leicht reizbar und schreckhaft, insbesondere wenn sie Reizen ausgesetzt sind, die an das Trauma erinnern. Darüber hinaus ergeben sich häufig Veränderungen im Denken und Fühlen: Dies kann dazu führen, dass sich Betroffene nicht mehr an wichtige Details des Traumas erinnern können oder das Trauma auf eine Weise interpretieren, die nicht der Realität entspricht. Es können Schuld- und Schamgefühle auftreten, die das Selbstbild und das Bild von anderen negativ beeinflussen.

Diese Symptome können nach einem belastenden Ereignis auftreten und sind oft eine normale Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis. Bei vielen Betroffenen verschwinden die Symptome nach einigen Wochen von selbst, während bei anderen die PTBS anhält, wenn sie nicht behandelt wird.

Test, 1, 2
Eine wichtige Unterscheidung betrifft die Kategorisierung von Traumata in Typ-1 und Typ-2:
Typ-1-Trauma bezieht sich auf einzelne, unvorhersehbare Ereignisse, die als Monotrauma bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um Traumatisierungen, die einmalig auftreten und innerhalb eines ansonsten relativ normalen Lebensverlaufs stattfinden. Beispiele hierfür sind Unfälle, Operationen, Naturkatastrophen, einmalige Gewalterfahrungen wie Überfälle oder Vergewaltigungen.
Ein Typ-2-Trauma hingegen umfasst Erfahrungen chronischer und oft frühzeitig beginnender Traumatisierungen. Dazu gehören traumatische Kindheitserlebnisse wie physischer und emotionaler Missbrauch, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, häufige Wechsel von Bezugspersonen und Wohnorten, das Aufwachsen mit misshandelnden Eltern sowie Flucht und Vertreibung aus der Heimat. Typ-2-Traumata haben in der Regel schwerwiegendere Auswirkungen auf die Betroffenen.
Diese Unterscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2-Traumata hilft dabei, die unterschiedlichen Hintergründe und Auswirkungen von Traumatisierungen besser zu verstehen.

Zahlen, bitte!
Menschen, die bereits psychisch erkrankt waren oder vorherige Traumata erlebt haben, sowie Menschen in sensiblen Lebensphasen wie Kindheit und Pubertät haben ein höheres Risiko, eine Belastungsstörung zu entwickeln. Ob man an einer Traumafolgestörung erkrankt, ist abhängig von der Art des Traumas:

  • 50 % Prävalenz nach Vergewaltigung
  • 25 % Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen
  • 50 % bei Kriegs- und Vertreibungsopfern
  • 15 % bei Verkehrsunfallopfern
  • 15 % bei schweren Organerkrankungen (Herzinfarkt, Krebs)

Die Lebenszeitprävalenz für eine PTBS in der Allgemeinbevölkerung liegt zwischen 2 % und 7 %.

Viele Untersuchungen zeigen, dass traumatische Erfahrungen eine Rolle bei schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, bipolaren Störungen, Psychosen, Angststörungen und Suchtproblemen spielen. Wenn zusätzlich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliegt, kann das den Schweregrad und Verlauf dieser Erkrankungen negativ beeinflussen. Wenn jemand in seiner Kindheit und Jugend viele traumatische Ereignisse und psychosoziale Belastungen erlebt hat, erhöht sich nicht nur das Risiko für psychische und körperliche Gesundheitsprobleme, sondern auch die Lebenserwartung kann um bis zu 20 Jahre verringert sein. In großen Studien wurden Verbindungen zwischen Traumatisierungen und verschiedenen körperlichen Erkrankungen wie COPD, rheumatischen Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs gefunden.

Unsichtbare Wunden
Das Wichtigste bei der Diagnose ist, Informationen über die traumatischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf die Symptome und die Funktionsfähigkeit der betroffenen Person zu sammeln. Außerdem sollte man nach den Ursachen und dem Zustand vor dem traumatischen Ereignis fragen. Dazu gehören auch die sozialen, familiären, wohnlichen und beruflichen Umstände, die medizinische und psychologische Betreuung sowie der allgemeine Gesundheitszustand.

Bei der Diagnosestellung gibt es üblicherweise eine bestimmte Reihenfolge. Dabei haben Betroffene stets die Kontrolle, z. B. was sie berichten möchten und was nicht und Therapeutinnen und Therapeuten werden schonend und rücksichtsvoll vorgehen.

Traumafolgestörungen werden oft nicht ausreichend diagnostiziert, insbesondere wenn die traumatischen Ereignisse lange zurückliegen und die Symptome nicht dem klassischen Bild der PTBS entsprechen. Das gilt auch für Angehörige, die ebenfalls betroffen sein können.

Um eine genaue Diagnose zu stellen, sind folgende Punkte hilfreich:

  • Eine sichere und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre schaffen – die Kontrolle über die Situation liegt stets bei der betroffenen Person.
  • Aktiv nach den Symptomen der PTBS fragen, da viele Patienten diese nicht von sich aus berichten.
  • Die Erklärung der Symptome als natürliche Reaktion auf Extrembelastungen kann den Betroffenen helfen.
  • Bei akuten Traumatisierungen ist es wichtig, Patienten über die zu erwartenden Symptome aufzuklären.
  • Die individuellen Bewältigungsstrategien der Patienten erfassen und unterstützen.
  • Die Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren.

Das diagnostische Gespräch spielt eine entscheidende Rolle in der Behandlung von Traumafolgestörungen. Es ist wichtig, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, um der betroffenen Person zu ermöglichen, sich mit ihren traumatischen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Bei denjenigen, die einem hohen Risiko für PTBS ausgesetzt sind, sollte bereits früh über den Einsatz von Screening-Tests nachgedacht werden.

Empathie, Therapie, was geht wie?
Gegenwärtig werden vor allem strukturierte, traumafokussierte, verhaltenstherapeutische Interventionen über mehrere Sitzungen als wirksam angesehen. Hierbei lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden: traumafokussierte und nicht-traumafokussierte Therapien.

Traumafokussierte Verfahren konzentrieren sich auf die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen. Sie beinhalten Dinge wie das Sprechen über das Trauma, das Nachspielen der Erinnerungen und das Verändern von negativen Gedanken über das Trauma. Ein Beispiel ist die Prolongierte Exposition, bei der man sich wiederholt mit dem Trauma auseinandersetzt. Eine andere Methode ist die Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), bei der man durch Augenbewegungen die Erinnerungen verarbeitet. Beide basieren auf der Idee, dass traumatische Erinnerungen in unserem Gehirn oft nicht ordentlich verarbeitet werden und deshalb zu belastenden Symptomen wie Flashbacks, Albträumen und Ängsten führen können. Es geht also darum, diese belastenden Erinnerungen neu zu verarbeiten. Beispielsweise erfolgt beim EMDR die Behandlung in den folgenden Schritten:

  • Vorbereitung: In dieser Phase geht es darum, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und die EMDR-Technik zu erklären.
  • Desensibilisierung: Die betroffene Person wird gebeten, sich auf die traumatische Erinnerung zu konzentrieren, während sie gleichzeitig einer geführten ablenkenden Bewegung folgt. Dies kann beispielsweise das Hin- und Herbewegen der Augen sein, aber auch Handklopfen oder Töne.
  • Reprozessierung: Während dieser Phase wird die betroffene Person aufgefordert, seine Gedanken und Gefühle in Bezug auf die traumatische Erinnerung zu teilen. Die behandelnde Person unterstützt den Prozess, damit die Erinnerung neu verarbeitet werden kann.
  • Körperliche Entspannung: Die Sitzung endet oft mit Entspannungsübungen, um sicherzustellen, dass die betroffene Person wieder in einen ruhigen Zustand versetzt wird.

Die genaue Art der EMDR-Behandlung kann von Fall zu Fall variieren, abhängig von den individuellen Bedürfnissen. Das Ziel ist jedoch immer die Reduzierung der belastenden Symptome, die durch traumatische Erinnerungen verursacht werden. EMDR wie auch die Prolongierte Exposition und andere traumafokussierte Verfahren haben sich in vielen Studien als sehr gut wirksam erwiesen.

Nicht-traumafokussierte Therapien dagegen konzentrieren sich nicht direkt auf das Trauma, sondern auf den Umgang mit den Symptomen der PTBS und der Emotionsregulierung. Diese Therapien helfen den Menschen, mit ihren Gefühlen umzugehen und aktuelle Probleme zu bewältigen, anstatt sich auf das Trauma zu konzentrieren. Ein Beispiel ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT). Es gibt auch Programme, die sich auf die Sicherheit und den Umgang mit Substanzmissbrauch konzentrieren.

Einige Therapieansätze kombinieren beide Techniken oft in verschiedenen Phasen der Behandlung. Diese Ansätze sollen  helfen, sowohl mit den Traumata umzugehen als auch andere Symptome zu bewältigen.

Die Sache mit den Happy Pills
In den 1980er Jahren, als die PTBS als psychische Erkrankung anerkannt wurde, begann die Suche nach Medikamenten zur Behandlung. Damals konzentrierten sie sich auf Symptome wie Angst und Depression, die oft mit PTBS einhergehen. Einige Medikamente, insbesondere Antidepressiva, zeigten positive Wirkungen, indem sie Ängste reduzierten und den Schlaf verbesserten. Allerdings konnten sie nicht alle Symptome der PTBS lindern, und die Heilung war selten vollständig. Antidepressiva wurden daher hauptsächlich verwendet, um Menschen mit PTBS zu helfen, an Einzel- und Gruppentherapien teilzunehmen. Benzodiazepine, eine andere Art von Medikamenten, zeigten sich als weniger nützlich und hatten unerwünschte Effekte nach dem Absetzen. Sie sollen deshalb bei Patienten mit PTBS nicht eingesetzt werden.

MDMA, auch als Ecstasy bekannt, wird in einigen wissenschaftlichen Studien untersucht, um festzustellen, ob es Menschen mit posttraumatischem Stress helfen kann. Die Idee ist, dass MDMA in einer therapeutischen Umgebung, also mit Hilfe von Ärztinnen und Ärzten oder Therapeuten, Menschen dabei unterstützen kann, schwierige traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Die Forschung schreitet voran. Es gibt immer noch Fragen zur Sicherheit und Wirksamkeit bei dieser Art der Behandlung. Zudem ist wichtig zu beachten, dass MDMA in den meisten Ländern illegal ist und nur in kontrollierten Studien verwendet werden kann. Es sollte niemals auf eigene Faust oder in Freizeitumgebungen genommen werden, auch da es nicht für sich allein wirksam ist, sondern nur ein Hilfsmittel, um die eigentliche Therapie zu unterstützen. Wenn jemand denkt, dass MDMA eine Option für die Behandlung von PTBS sein könnte, ist es entscheidend, sich an Fachleute zu wenden, die Erfahrung in dieser Art von Therapie haben.

Und was kann im Alltag helfen?
Kontrolle über sein Leben zu haben und eigenständig handeln zu können, ist besonders wichtig, wenn jemand Erfahrungen von Hilflosigkeit gemacht hat. Bei der Behandlung sollte darauf geachtet werden, dass die betroffene Person Kontrolle hat und Entscheidungen treffen kann. Verwirrende Situationen, wie unklare Regeln, ständig wechselnde Personen, unberechenbare Gespräche und große Gruppen, sollten vermieden werden, da sie Unsicherheit auslösen können. Die betroffene Person sollte die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen, wenn sie sich überfordert fühlt. Es ist essenziell, die Grenzen der betroffenen Person zu respektieren.

Achtung, jetzt wird’s komplex
Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) ist eine besondere Form der PTBS. Sie wird mit der Einführung des ICD-11 als eigenständige Diagnose anerkannt. Die KPTBS entwickelt sich in der Regel als Reaktion auf besonders schwere und langandauernde traumatische Ereignisse. Diese Ereignisse sind oft von wiederholter körperlicher oder sexueller Gewalt geprägt, insbesondere in der Kindheit. Darüber hinaus können Erfahrungen wie Menschenhandel, kriegerische Konflikte, Folter oder andere Formen schwerwiegender politischer oder organisierter Gewalt zu KPTBS führen.

Was die KPTBS von der klassischen PTBS unterscheidet, sind die zusätzlichen Symptommuster, die auftreten. Neben den bekannten PTBS-Symptomen wie Flashbacks, Albträume und anhaltendes Bedrohungsgefühl leiden Menschen mit KPTBS oft unter gestörter Emotionsregulation und Impulskontrolle. Sie können anhaltend depressive Verstimmungen, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung verspüren, was manchmal mit einem hohen Maß an Suizidalität und Selbstverletzungen einhergeht.

Menschen mit KPTBS können auch massive Probleme in Bezug auf ihr Selbstbild haben. Sie können sich hilflos fühlen, ein gestörtes Körperbild entwickeln und sogar eine starke Abneigung gegen ihren eigenen Körper empfinden. Das Selbstwertgefühl kann stark beeinträchtigt sein, was dazu führt, dass die Bedürfnisse der eigenen Person oft ignoriert oder vernachlässigt werden. Darüber hinaus können Beziehungen zu anderen Menschen stark beeinträchtigt sein. Betroffene ziehen sich oft sozial zurück, haben generell Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen, und fühlen sich oft isoliert.

Dissoziative Zustände, bei denen die Wahrnehmung oder das Bewusstsein gestört sind, sind ebenfalls häufig. Dies kann sich in Form von Gedächtnislücken, dissoziativen Episoden oder dem Gefühl der Entfremdung von sich selbst äußern. Die Behandlung der KPTBS erfordert eine sorgfältige und spezialisierte Herangehensweise. Psychotherapie, insbesondere traumafokussierte Therapie, spielt eine entscheidende Rolle. Diese Therapieform konzentriert sich darauf, die traumatischen Erinnerungen zu verarbeiten und die emotionale Regulation zu verbessern. Ebenso wird an der Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen gearbeitet, um dysfunktionale Muster zu bewältigen.

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Bildcredit: Alfred Kenneally | Unsplash

Artikel

Hinweis vor dem Lesen dieses Textes
Es werden Traumata und sexualisierte Gewalt thematisiert. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, lies diesen Text am besten nicht allein, sondern mit einer vertrauten Person, mit der du dich über den Text unterhalten kannst.


Hilfe holen
Im akuten Notfall, falls möglich, 110 wählen und die Polizei alarmieren. Weitere Hilfsangebote gibt es unter anderem hier:

Spuren sichern
Auf Veranlassung der Betroffenen können die unmittelbaren physischen Spuren sexualisierter Gewalt, zum Beispiel nach einer Vergewaltigung, durch eine vertrauliche Spurensicherung dokumentiert werden. Das ist bundesweit in den meisten Universitätskliniken möglich. Das Material wird nicht der Polizei übergeben, aber für bis zu 20 Jahre aufbewahrt und kann so auch in einem späteren strafrechtlichen Prozess verwendet werden. Die Kosten für die vertrauliche Spurensicherung tragen die gesetzlichen Krankenkassen. Therapieangebote finden

Eine spezialisierte Psychotherapie kann dabei helfen, die Folgen von sexueller Gewalt und anderen Traumatisierungen zu bewältigen. Psychotherapeuten mit einer traumaorientierten Zusatzausbildung sind hier zu finden:

  • Traumaambulanzen: in verschiedenen Städten bundesweit, eine Übersicht gibt es unter anderem unter projekt-hilft.de.
  • Therapeutensuche der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT).

Finanzielle Unterstützung
Wer bis zur Volljährigkeit sexualisierte Gewalt in der Familie oder in einer Institution erleben musste, kann beim Fonds Sexueller Missbrauch umfangreiche Sachleistungen wie die Kostenübernahme von Therapien beantragen.


„Plötzlich war ich wie weggetreten. Ich muss zitternd im Bett gelegen haben. Wirklich mitbekommen habe ich das kaum noch“, sagt Franziska.

„Ich nehme an, dass das damals ähnliche Berührungen waren wie die meines Lehrers.“ Franziska musste von ihrem Lehrer sexuelle Gewalt erfahren. Da war sie zwölf Jahre alt. 2008 wurde der Mann für das schuldig gesprochen, was er Mitte der Neunziger mindestens zwei Schülerinnen angetan hatte. Franziska ist eine davon. Wegen Küssen und intimen Berührungen wurde der Täter vor einem Amtsgericht in Niederbayern zu 14 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. „Ich weiß, dass er mich nicht vergewaltigt hat. Aber er hat mich angefasst und ich musste ihn anfassen“, sagt Franziska, die heute 39 Jahre alt ist. Der Richter habe damals betont, dass die Strafe milde sei, weil einige der begangenen Taten des Lehrers bereits verjährt seien.

In diesem Text soll es nicht um den Täter gehen, sondern um das Leben nach sexualisierten Gewalterfahrungen. Für Betroffene wie Franziska können die Beziehungen und Sexualität, die sie sich wünschen, herausfordernd sein. Weil Dinge, die beim Sex passieren, an die Tat erinnern. Weil es schwierig sein kann, zu vertrauen. Weil es nicht immer leicht ist, Partner zu finden, die das verstehen. Trotz oder gerade wegen der Gewalt, die sie als Kind erlebte, beschreibt Franziska sich als keine zurückgezogene Jugendliche: „Ich habe mir ein krasses Selbstbewusstsein drauf geschaufelt und war mir sicher, dass mir dann keiner mehr was könnte.“

Sie hatte gute Noten, fing mit Judo an, wurde Schülersprecherin, setzte sich für Menschenrechte ein. Sie arbeitete in der Gastronomie und ging im Dunklen allein nach Hause, weil sie es so wollte.  Über das, was ihr als Kind geschehen war, schwieg sie. Nur wenige Male hatte sie mit einer anderen Betroffenen gesprochen, die sie über den Täter kannte. Sie verloren sich noch als Kinder aus den Augen. Auch ihre Mutter log Franziska an, sogar wenn die nachfragte, warum sich der Lehrer so häufig nach ihr erkundigte. „Ich verstehe, dass mein Teenie-lch das nicht wollte. Wenn das rausgekommen wäre, dann hätte die ganze Schule darüber geredet.“ Die Entscheidung, gegen den Täter auszusagen, traf sie erst im Studium.  Franziska war 16, als sie sich das erste Mal so richtig verliebte. Er lebte wenige Häuser weiter. Erst waren sie befreundet, dann wurden sie ein Paar.

„Er war für mich der schönste Junge auf der Welt.“ Franziska hat einen wachen, ausgeruhten Blick. Wenn sie über ihre erste Liebe spricht, lächelt sie. „Mein Freund hat mich damals gefragt, ob ich mit ihm mein erstes Mal haben will, als ob er mir einen Antrag machen würde. Er war unheimlich süß.“ Und Franziska sagte: Ja, sie will. Sie knutschten gerne. Manchmal trafen sie sich bei ihm und schauten einen Film. Manchmal saßen sie bei ihr, nur um zu reden. „Beim ersten Mal habe ich an die Decke geschaut und dachte mir: Und das ist jetzt der Sex, den alle so toll finden?“ Sie lacht. Doch der Sex wurde besser. Bis zu dem einen Mal, als Franziska zitternd und weinend im Bett lag. Wahrscheinlich war es eine Berührung ihres Freundes am Hals, vielleicht eine am Ohr. Sie hat es nie genau mitgekriegt. „Ich war wirklich völlig weggetreten. Auch mein Freund war logischerweise total überfordert“, sagt Franziska heute.

Monika Wacker ist Paar- und Sexualtherapeutin. In ihre Praxis in Münster kommen Menschen, weil sie selbst oder der Herzensmensch sexualisierte Gewalt erlebt haben. „In der ersten Verliebtheitsphase taucht dieses Thema oft noch nicht direkt auf, sondern erst im laufe der Beziehung“, sagt Wacker. Manche wünschten sich dann eine erfülltere Sexualität, wollten Dinge ausprobieren, zum Beispiel penetrativen Sex, kämen aber wegen der Missbrauchserfahrungen an Grenzen. „Manchmal kommen sie vermeintlich aus dem Nichts wieder hoch.“ Nicht alle Betroffenen haben eine Traumafolgestörung. Franziskas Freund habe die Schuld bei sich gesucht, wollte wissen, welchen Fehler er gemacht hätte. „Er war sehr verzweifelt.“ Franziska schwieg zunächst – obwohl sie ahnte, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem, was ihr Körper plötzlich tat, und dem, was ihr Lehrer ihr angetan hatte. Dann erzählte sie es ein paar Wochen später doch. Weil sie Angst hatte, ihren Freund zu verlieren. Und weil sie sah, wie sehr ihr Freund mit sich haderte.

„Ich erzählte ihm, dass mein Lehrer mich angefasst hat, mich missbraucht hat. Dass er mich geküsst hat, dass es eklig war und dass er mir verboten hat, darüber zu reden.“ Der Freund sei wütend auf den Täter gewesen und habe ihr damals aber versprochen, ihre Geschichte nicht weiterzuerzählen. Er wurde in dieser Zeit, neben der Bekannten von früher, der Einzige, der Bescheid wissen durfte. Für die körperlichen Reaktionen, die Franziska in ihrer Beziehung erlebte, gibt es Fachbegriffe. Behandelnde sprechen von einem Flashback, wenn Betroffene sich fühlen, als wären sie körperlich wieder in der bedrohlichen Situation, die sie erfahren mussten. „In der Sexualität mit dem aktuellen Partner können viele Dinge einen Flashback triggern. Das kann die Art und Weise sein, berührt zu werden, ein Geräusch oder ein Geruch“, sagt die Sexualtherapeutin Monika Wacker.

Den Zustand, den Franziska als weggetreten beschreibt, nennen Fachleute Dissoziation oder auch Intrusion. Wenn Menschen dissoziieren, nehmen sie das, was gerade geschieht, emotional oder teilweise auch körperlich nicht mehr wahr. Julia Schellong ist Oberärztin der Psychotraumatologie der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Uniklinikum Dresden. Schellong sagt, dass Symptome wie Dissoziation und Flashbacks auf eine Traumafolgestörung hinweisen könnten. „Die kann entstehen, wenn man nach einem katastrophalen Ereignis eine Symptomatik entwickelt, wegen der man dieses Ereignis durch individuelle Auslöser sozusagen wieder erlebt.“ Das zweite Symptom sei ein Vermeidungsverhalten gegenüber Reizen, Erinnerungen und Aktivitäten, die mit dem Erlebten zu tun hätten. Das dritte Symptom sei bei vielen eine starke emotionale Aufgeregtheit des Körpers, andere seien wie abgeschaltet. „Das kann bei manchen Betroffenen schwanken“, sagt Schellong. Wichtig sei: Nicht alle überlebende sexualisierter Gewalt hätten eine Traumafolgestörung. Andere entwickelten nur einen Teil der Symptome – oder keine. „Das hängt auch davon ab, wie sehr man danach gehört und aufgefangen wurde“, sagt Schellong.

Die Liebe danach
Nach ihrer ersten Erfahrung mit Dissoziation und Flashbacks ging Franziska in keine Traumaambulanz und nicht zur Therapie. Ihre Herangehensweise: „Wir haben es einfach ausgesessen.“ Sie schliefen danach trotzdem wieder miteinander. Mit ihrem Freund führte sie keine langen reflektierenden Gespräche, sie trafen keine besonderen Absprachen über das, was beim Sex passieren durfte und was auf keinen Fall. Sie probierten es aus. „Er war sehr vorsichtig. Wir haben bei den kleinsten Anzeichen, dass ich wieder abdriften könnte, aufgehört. Dann hat er mich in den Arm genommen und mit mir gewartet, bis es vorbei ist“, sagt Franziska. „Ich hatte nicht jedes Mal Flashbacks. Oft ist wochenlang nichts davon passiert, wenn wir miteinander geschlafen haben und dann wieder mehrfach hintereinander. Bis es nach mehreren Monaten ganz aufgehört hat.“ Was ihr geholfen habe, sei die Geduld ihres Partners gewesen. Er sei nie wütend geworden. „Wir hatten eine sehr schöne Sexualität.“ Am wichtigsten für sie war, dass ihr erster Freund ihre Situation akzeptierte.

Auch wenn Franziska als Erwachsene bereut, dass sie damals keine Unterstützung zuließ – weder für sich noch für ihren ersten Partner. „Ich habe mich sehr sicher gefühlt, weil ich wusste, dass mein Freund mir nicht wehtut. Ich glaube, dass in dieser Zeit viel geheilt ist“, sagt sie. „Achtsam zu sein, Geduld zu haben und nicht sauer zu sein, und wenn man mal zurückgewiesen wird, erst mal zu fragen, was dahintersteckt, das sollte in allen Beziehungen selbstverständlich sein.“ Die Sexualtherapeutin Wacker weiß, dass sichere Beziehungen für überlebende sexualisierter Gewalt eine Chance sein könnten. „Wenn die Betroffenen mit einem Menschen zusammen sind, der sie liebt, auf ihre Bedürfnisse achtet und ihnen Raum gibt, Einfluss auf das zu nehmen, was in der Sexualität passieren darf, dann kann das eine sehr heilsame Erfahrung sein“, sagt sie. Bevor es um Sex zu zweit gehe, spreche Wacker bei Betroffenen auch das Thema Selbstbefriedigung an. „Liebevolle Selbstliebe kann dabei helfen, den eigenen Körper besser kennenzulernen und aus einer passiven Rolle gegenüber dem Partner herauszukommen in eine aktive, sichere Rolle.“ Partner von überlebenden sexualisierter Gewalt rät Wacker, sich über Dissoziation, Trigger und das Nervensystem zu informieren. „Die Partner kriegen oft mehr mit als die Betroffenen selbst, wenn jemand zum Beispiel dissoziiert. Zum Beispiel, wenn der Partner oder die Partnerin plötzlich eine starre Körperhaltung bekommt, den Atem anhält oder einen ganz bestimmten Blick hat.“ Wenn sie verständen, was passiert, könne das eine große Hilfe sein. Was ohnehin beim Sex gilt, ist besonders wichtig für Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben: Man müsse nichts mitmachen, was man nicht möge, sagt die Psychotraumatologin Schellong. „In der Sexualität geht es um Selbstbestimmtheit. Aber manchmal vermeidet man etwas, das natürlich wäre oder gut passen könnte, weil es an die Gewaltsituation erinnert.“ Daran könnten Betroffene arbeiten, wenn sie wollten. „Sprechen ist das allerbeste. In einer guten Vertrauensbeziehung sollte man über das reden können, was man möchte und über das, was man nicht möchte.“ Das gelte nicht nur für Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen seien – sondern für alle. Manchmal braucht es Mut, sich zu trennen Zwei Jahre hielt Franziskas erste Liebe. Dann verliebte sie sich neu. Und diese Beziehung war anders. Sie war 18 und wollte ihrem Freund gleich zu Beginn der neuen Liebe ihre Geschichte erzählen. „Ich wusste nicht, ob mein Körper wieder ähnlich reagiert bei einem neuen Freund.“ Ihr damaliger Partner, sagt Franziska, habe ihr im Satz das Wort abgeschnitten. „Er wollte nichts davon wissen. Thema erledigt. Also habe ich nichts gesagt.“

Heute findet Franziska, sie sei in jener Zeit wie benebelt gewesen, anders als früher. Die Beziehung dauerte ein Dreivierteljahr. Franziska hatte keine Flashbacks mehr, aber sie fühlte sich in ihrer Partnerschaft oft ohnmächtig. Sie trug Absatzschuhe, weil ihr Freund sie am liebsten küsste, wenn sie High Heels anhatte. Sie zog bei ihm ein, obwohl sie sich in Ruhe auf das Abitur vorbereiten sollte. Franziska erzählt, dass ihr Freund einmal versucht habe, mit ihr zu schlafen, obwohl sie das nicht wollte. „Er hat erst dann aufgehört, es zu versuchen, als ich geweint habe.“ Dabei hatte sie sich schon mit 13 Jahren geschworen, dass ihr niemand mehr wehtun wird. Es kam anders: „Ich hatte meinem Freund etwas gesagt und es hat ihn null interessiert. Danach war meine Sicherheit dahin.“

Franziska bekam Angst vor ihrem Partner, der doppelt so groß gewesen war wie sie. Auch in Situationen, die nichts mit ihm zu tun hatten, fühlte sie sich nach diesem Erlebnis nicht mehr sicher. „Ich bin danach durch die Straßen geschlichen.“ Es dauerte einige Monate, bis sie den Mut fand, sich von ihrem Partner zu trennen. Und sie traf eine Abmachung mit sich selbst: Sie würde reden über die Gewalterfahrungen aus der Kindheit – wenn sie jemand danach fragte. Zu dieser Zeit arbeitete sie in einem Café. Zusammen mit diesem einen Kollegen, mit dem sie sich besonders gut verstand – obwohl beide noch in Beziehungen waren. „Wir verliebten uns langsam ineinander.“ Der Kollege wurde ihr neuer Partner. Heute ist er ihr Mann. Als sie ein Paar wurden, hörte er ihr zu. „Er wollte ganz genau wissen, was passiert war.“

Auch zu Beginn dieser Beziehung hatte sie manchmal Flashbacks, wenn sie mit ihrem Partner schlief. Franziska glaubt heute, diese hätten eher aus den Grenzüberschreitungen ihres Ex-Freundes resultiert, nicht mehr aus den Erfahrungen in ihrer Kindheit. „Mein Mann wusste, woran diese Reaktionen lagen. Wir haben darüber gesprochen, wie sie sich für mich anfühlen. Aber weil wir abgesehen davon eine sehr vertraute Sexualität miteinander hatten, war das kein wirkliches Problem“, sagt Franziska. Wenn sie über ihre Ehe spricht, dann spricht sie auch von einem schönen Liebesleben.

Als es an der Tür klingelte, war Franziska Mitte 20. Sie war gerade zum zweiten Mal Mutter geworden. Der Beamte im Hausflur stellte sich als Kriminalpolizist vor. „Da wusste ich, jetzt ist es so weit.“ Franziska brachte das Baby zu ihrem heutigen Ehemann und setzte sich mit dem Polizisten in die Küche. Während einer Hausdurchsuchung bei einem mutmaßlichen Sexualstraftäter seien auch Fotos von ihr gefunden worden. Briefe, in denen ihr Name stand. „Ich glaube, man hat mir in dem Moment angesehen, dass es so war, wie der Kripobeamte vermutete.“ Sie erzählte ihm alles.

Wenige Monate nach dem Besuch der Kriminalpolizei sagte Franziska als Hauptzeugin gegen ihren Lehrer aus. Franziska ist nicht die Einzige mit dieser Geschichte – eine der anderen hatte geklagt. „Mir war das Strafmaß völlig egal. Für mich war wichtig, Männer zu sehen, die auf unserer Seite waren. Der Kripobeamte, der Richter, der Staatsanwalt.“ Franziska sagt heute, sie habe den Täter jahrelang innerlich in Schutz genommen, weil sie ihn für psychisch beeinträchtigt gehalten hätte – bis vor Gericht zwei Gutachten eingebracht wurden, die den Täter für voll schuldfähig erklärten. „Ich war wütend auf ihn. Das ganze Bild, dass ich mir über die Jahre zurechtgezimmert hatte, ist kaputtgegangen.“ Der Prozess sei für sie wichtig gewesen, um das Erlebte aufzuarbeiten. Eine weitere Hauptzeugin war die Bekannte, mit der sie damals kurz über die Missbrauchserfahrungen gesprochen hatte, die beide gemacht hatten. Nach dem Prozess sahen sie sich wieder, wurden Freundinnen. „Wir haben in den Jahren danach viel geredet.“

Beide Frauen, sagt Franziska, hätten oft über das Thema Scham nachgedacht. „Wenn der Täter mir zum Beispiel über die Finger gestreichelt hat, dann war das, rein körperlich, ein schönes Gefühl. Wie konnte mein Körper auf so etwas Falsches mit Wohlgefühl reagieren?“ Der Gedanke, sie könne den Täter irgendwie provoziert haben, ihn gar zur Tat aufgefordert haben, belastete Franziska viele Jahre. „Die Freundin hat das genauso empfunden. Mit ihr konnte ich darüber reden.“ Es war diese Freundin, mit der sie auch über die Scham sprechen konnte, überhaupt eine erfüllte Sexualität haben zu dürfen. „Viele können sich nach so einer Tat sicherlich nie wieder auf eine Beziehung einlassen.“ Manchmal hätten sie sich beide wie Verräterinnen gefühlt, weil sie gern Sex hätten. Wie Verräterinnen, weil die eigene sexualisierte Gewalterfahrung anscheinend nicht schlimm genug war, um danach für immer darauf zu verzichten. Und wie Verräterinnen gegenüber denen, die nie wieder Sex haben wollten. Dabei weiß Franziska, dass sie in Wahrheit nicht schuldig ist, sondern der Täter Schuld hat.

Der Umgang mit der Scham
In der Klinik spricht Julia Schellong in Therapiesitzungen mit Betroffenen häufig über diese Scham. „Wenn jemand sexualisierte Gewalt erlebt hat, ist es möglich, dass der Körper physiologisch mit reagiert hat, obwohl man das, was passiert ist, nicht wollte. Das kann Betroffenen sehr unangenehm sein.“ Zu klären sei oft auch, dass es erlaubt sei, wieder Freude an Sexualität zu empfinden. Eine klassische Psychotherapie machte Franziska nie. Aber weil sie sich nach dem Studium zur systemischen Beraterin ausbilden ließ, lernte sie viele Techniken, die sie für sich selbst hilfreich fand, um mit dem Erlebten umzugehen. Franziska machte Körperübungen zu therapeutischen Zwecken, wie Yoga oder die Feldenkrais–Methode. Während einer Beckenübung fühlte sie sich noch einmal so, als würde sie wieder die Kontrolle verlieren. „Ich konnte es in dem Moment nicht ändern. Aber ich wusste, was passiert, und ich war mir sicher, dass es gleich wieder aufhören würde.“

Heute ist Franziska Mutter von vier Kindern. Der älteste Sohn ist 16 Jahre alt. Franziska sagt, die Angst, dass auch ihre Kinder irgendwann einen Übergriff erleben könnten, sei immer da. Was ihr helfe, sei, mit ihren Kindern darüber zu reden. „Du musst nicht die Hand geben, wenn du das nicht willst. Du musst nicht bei jemandem auf dem Schoß sitzen, wenn du das nicht willst. Du musst dich nicht umarmen lassen, wenn du das nicht willst.“ Wenn Erwachsene, die deshalb keine Umarmung von ihren Kindern kriegen, damit unzufrieden sind – dann ist Franziska das egal.

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Der Original-Artikel ist unter dem Titel „Sexualisierte Gewalt: Meine Liebe gehört mir!“ am 27.12.2022 bei ze.tt erschienen.

Bildcredit: Luke Porter | Unsplash